Als ich mich mit 24 Jahren entschloss Noten zu lernen, hatte ich schon ein paar Jahre mit Akkorden, Pickings und Strumming zugebracht. Ich suchte also nach einer Person, die mir das Gitarrenspiel nach Noten beibringen würde. Gleich der erste Anruf war ein Treffer, wie sich später herausstellen sollte. Bruce S. Duncan wurde mein Lehrer und kam einmal wöchentlich zu mir, um mich zu unterrichten. Ich machte recht gute Fortschritte, weil meine Finger schon daran gewöhnt waren, die komischsten Bewegungen auszuführen. Ich war arbeitslos und hatte eine Menge Zeit und Ehrgeiz. Selbstverständlich gab es auch Wochen, in denen ich nicht wirklich gut vorbereitet war auf den Unterricht. Ich hasste diese Situationen und heute weiß ich, dass so etwas für beide Seiten unangenehm sein kann.
Eines Tages in so einer Unterrichtsstunde in meinem kleinen Zimmer kämpfte ich mich durch die Literatur, die ich in der vergangenen Woche hätte erarbeiten sollen. Ich hatte wirklich alle Hände voll zu tun und war mit dem Notentext überfordert. Plötzlich meinte Bruce – während ich weiter mit dem Notentext kämpfte – mit seinem sympathischen englischen Akzent: “Du solltest unbedingt den Fingersatz der rechten Hand beachten. Außerdem bitte dynamischer spielen.“ Diese Anweisungen gingen immer weiter während ich spielte. “Denk an die Registerwechsel. Das geht aber doch noch süßer. Halte die Pausen in den Stimmen ein. Dämpfen! Tirando hier! Apoyando in der Oberstimme!”
Ich fühlte eine unbestimmte Wut in mir aufsteigen. Nicht gegen Bruce, der mit Sicherheit wahrgenommen hatte, dass ich ohnehin schon mit dem abspielen der Noten überfordert war. Auch nicht gegen mich, obwohl mir klar war, dass ich eine Woche meine Hausaufgaben nicht gemacht hatte. Das Gefühl der Überforderung wurde so stark, dass ich plötzlich aufsprang und Bruce anschrie, ja ich war wirklich laut: „Ich kann nicht auf alles gleichzeitig achten!“
Stille! Und dann seine Reaktion, die ich nie vergessen werde: Er setzte sich zurück, lehnte sich an, verschränkte die Arme, lächelte und sagte in ganz ruhigem Ton: „I know, nobody can. But you have to try.“
Damals habe ich es nicht wirklich verstanden, aber heute weiß ich, dass es wirklich so ist. Es gibt kein Ende. Es gibt immer wieder Erfolge, wenn etwas gut geklappt hat, wenn eine Spieltechnik in mein Bewegungsrepertoire übernommen ist, wenn ich es geschafft habe, zwei oder drei Stimmen durch das ganze Stück bewusst zu führen. Aber je weiter man eintaucht in die Tiefen der Musik, desto mehr bemerkt man auch, dass es da noch eine Menge zu entdecken gibt. Die meisten von uns arbeiten ihr Leben lang daran, all das, was wir tun, unter Kontrolle zu haben, aber so, dass es klingt wie improvisiert. Leicht, locker, transparent, magisch. So, dass die Zuhörer gespannt sind auf das was noch kommt, ihre Aufmerksamkeit bei der Musik bleibt und nicht nach kurzer Zeit darüber nachdenken, welchen Kuchen Oma wohl am Sonntag zum Kaffee reicht.
Ein Erfahrungsbericht von MR.