GitarreKonkret: Nicola, du hast ein Projekt gestartet, bei dem du Komponist*innen dazu aufgerufen hast, Gitarrenstücke ausschließlich für die linke Hand zu schreiben. Wie ist es dazu gekommen?
Nicola Yasmin Stock: Durch eine Überlastung meiner rechten Hand und einer dadurch entstandenen Epicondylitis (Golferarm) konnte ich seit Dezember 2019 nicht mehr normal spielen oder üben. Am Anfang habe ich dann das bereits vorhandene Repertoire für die linke Hand gespielt, aber das ist leider sehr begrenzt: Mal gibt es hier eine einzelne Variation, mal dort den Anfang eines Stückes. Aber dann initiierte Lars Wüller die „Left Hand Guitar Challenge“; er hatte sich ebenfalls am rechten Arm verletzt und dann ein Stück für die linke Hand geschrieben und andere Gitarrist*innen dazu aufgerufen, dieses ebenfalls einzuspielen und als Video hochzuladen. Gemeinsam mit meinem Professor Gerhard Reichenbach kam dann die Idee auf, noch mehr neue Stücke in Auftrag zu geben und so für die linke Hand allein ein Repertoire zu schaffen. Das Klavier hat ja beispielsweise schon sehr viel Repertoire für die linke Hand, etwa Stücke von Ravel, Skrjabin und anderen.
GK: Wie habt ihr das dann mit den Komponist*innen gemacht? Wie hast du sie ausgesucht und wie bist du mit ihnen in Kontakt getreten?
NYS: Hauptsächlich habe ich Komponist*innen gefragt, die ich auch persönlich kenne, zum Beispiel aus der Hochschule oder aus der Gitarrenwelt, und habe sie dann per E-Mail oder Facebook angeschrieben. Fast alle waren begeistert von der Idee und hatten direkt Lust, diese ungewöhnliche Herausforderung anzunehmen. Es sind auch nicht nur Gitarrist*innen dabei, die Stücke schreiben, sondern auch Komponist*innen, die nicht selbst Gitarre spielen. Ein Stück habe ich sogar direkt ohne Anfrage geschickt bekommen, als der Komponist durch eines der Videos auf das Projekt aufmerksam geworden ist. Das fand ich auch sehr spannend.
GK: Hat das Stück schon existiert oder hat er es auf deinen Aufruf hin erst geschrieben?
NYS: Nein, er hat es erst daraufhin komponiert und mir aber sehr schnell geschickt.
GK: Welche Stücke hast du bei dir bereits vorliegen und welche Titel tragen sie?
NYS: Das erste Stück war „Summerwalk“ von meinem ehemaligen Kommilitonen Sören Golz, das war bereits nach drei Tagen fertig. Seither sind noch der „Left Hand Blues“ von Dieter Kreidler, ein Präludium und eine Fuge im barocken Stil von Jan Christopher Heßling, „Another Thing“ von Meike Senker und die „Etude Diabolique“ von Philipp Lojak dazu gekommen. Was ich interessant finde ist, dass so viele unterschiedliche Tonsprachen in einem Projekt zusammenkommen: Von den Stücken im barocken Stil über experimentelle Musik mit präparierter Gitarre, virtuose Etüden bis hin zu populärer Musik. Es kommen auch noch voraussichtlich zehn Stücke dazu, das heißt, es wird noch spannend.
GK: Haben die Komponist*innen Rückmeldung gegeben, wie sie das Komponieren dieser Stücke empfunden haben? Was es besonders schwer war, ungewöhnlich, hat es sie besonders gereizt?
NYS: Von vielen Gitarrist*innen habe ich die Rückmeldung bekommen, dass sie das total cool finden und irgendwie auch verrückt. Für sie ist es natürlich auch leichter gewesen, diese Stücke zu komponieren, weil sie es dann selbst ausprobieren konnten. Von den Nicht-Gitarristen waren einige auch manchmal ein bisschen skeptisch, ob sie das hinbekommen. Wir haben uns dann allerdings am Telefon besprochen und verschiedene Sachen ausprobiert und ich habe gezeigt, was man so alles mit der linken Hand machen kann. Am Ende ist auch hieraus etwas geworden.
GK: Über deine Facebook-Seite kann man sich bereits erste Projektergebnisse von dir eingespielt anhören. Wie ist dort die Reaktion auf das Projekt?
NYS: Die Resonanz ist größer als ich erwartet habe, weil es nicht nur Leute gibt, die die Musik schön oder die Spielweise interessant finden, sondern tatsächlich auch Spieler*innen, die sich in ähnlichen Situationen befinden. Sie können ihre rechte Hand im Moment nicht belasten und sind natürlich dankbar, dass jetzt ein neues Repertoire entsteht, mit dem man dann trotz der Einhändigkeit vielfältig musizieren kann.
GK: Wie geht es denn weiter mit den Stücken? Werden sie veröffentlicht? Machst du sie auch für andere Spieler zugänglich?
NYS: Erst einmal werde ich die Stücke, die jetzt noch eintreffen, üben und einige Videos hochladen, damit alle Interessierten mitverfolgen können, was aktuell passiert. Anschließend ist ein Sammelband geplant. Ganz konkret lässt sich das dann realisieren, wenn alle Stücke eingetroffen sind. Schon fest eingeplant ist zudem eine CD-Einspielung mit Hans-Ulrich Holst aus Hamburg Anfang nächsten Jahres. Auf die freue ich mich ganz besonders, weil sie auch das Abschlussprojekt meines Studiums sein wird.
GK: Daraus hat sich also etwas richtig Großes entwickelt.
NYS: Ja, das hätte ich am Anfang gar nicht gedacht. Ich bin auch ganz begeistert, dass so viele mitmachen.
GK: Welche Tipps aus deiner Erfahrung über die letzten Monate – zum Beispiel Technikübungen – kannst du denn denjenigen geben, die sich dem Repertoire für die linke Hand widmen?
NYS: Ich glaube der wichtigste Tipp ist, dass man die Scheu davor verlieren sollte, die rechte Hand einmal außen vor zu lassen. Zur Technik: Vor dem Projekt habe ich zwar schon Einzelbindungen geübt, aber durch die Stücke kamen noch einmal ganz neue Herausforderungen auf mich zu. Wie zum Beispiel das Aufschlagen ganzer Akkorde oder dass man gleichzeitig Aufschlag und Abzug spielt. So etwas habe ich vorher nicht geübt. Aus den vorliegenden Stücken für die linke Hand habe ich mir die schwierigsten Stellen herausgesucht und selbst kleine Technikübungen daraus entwickelt. Das macht auch gleich viel mehr Spaß, wenn man Musik dabei hat bei der vermeintlich öden Technik.
GK: Spielst du mittlerweile wieder mit beiden Händen und hat sich dein Spiel durch das Projekt verändert?
NYS: Jetzt nach neun Monaten ganz ohne rechte Hand habe ich vorsichtig wieder angefangen, sie zu nutzen. Ich kann natürlich noch nicht direkt mehrere Stunden täglich üben, sondern muss meine Kraft Stück für Stück wiedererlangen. Das Projekt hat meine Art zu spielen stark beeinflusst. Erst einmal habe ich natürlich bei der linken Hand die Treffsicherheit, Position und Kraft verbessern können. Was mir aber auch auffällt ist, dass sich bei mir in Bezug auf die Ästhetik und Klangvorstellung einiges geändert hat. Beim Linke-Hand-Spiel gibt es ja oft diesen perkussiven Nebenklang, wenn man aufschlägt – das habe ich ein bisschen als neues Stilmittel entdeckt. Auch für die Töne, die auf der anderen Seite der Saite mitschwingen und die man beim normalen Spiel sonst fast nicht bemerkt, ist mein Bewusstsein geschärfter. Ich glaube, dass ich durch die vielen neuen Klangerfahrungen auch im zweihändigen Spiel noch mehr Klangvielfalt suchen werde.
GK: Du bist wahrscheinlich trotzdem froh, jetzt wieder beide Hände benutzen zu können.
NYS: Ja, das ist natürlich wieder ein anderes Gefühl. Man fühlt sich irgendwie wieder wie zu Hause.
Nicola studiert Gitarre bei Prof. Gerhard Reichenbach an der Hochschule für Musik und Tanz Köln, Standort Wuppertal, und bereitet sich auf ihren Bachelor-Abschluss vor.
Das „Left Hand Guitar Pieces-Project“ ist nicht Nicolas erstes passioniertes Engagement für das Gitarrenrepertoire: Wegen ihres besonderen Einsatzes für das weitgehend unbekannte Repertoire weiblicher Komponistinnen wurde sie neben Liying Zhu mit dem Stipendium für Gitarristinnen der Gleichstellungskommission der HfMT Köln ausgezeichnet.
Die 22jährige ist darüber hinaus Preisträgerin mehrerer nationaler und internationaler Gitarren-Wettbewerbe und konzertierte als Solistin auch bereits international, etwa 2018 in Japan beim Sound Market Musikfestival in Kashiwazaki oder in Ecuador beim 10. Guitarrea Festival Internacional Guayaquil.
Sie engagiert sich in vielfältigen Kammermusik-Formationen und Orchestern und hat Ende 2018 gemeinsam mit Iain Lennon das Dirigat des Gitarren- und Mandolinenorchesters Dortmund übernommen. Nicola ist zudem als Pädagogin tätig.
Seit dem Gespräch sind auch bereits weitere Stücke bei ihr eingetroffen: „High Five” von Jürg Kindle, „Scherzando” von Atanas Ourkouzounov und „La Lira Encantada” von Luis Manuel Molina.