Von Peter Kuhz
Seitdem der Münchner Gitarrist Johannes Tonio Kreusch, der von der Fachpresse als „einer der kreativsten Klassikgitarristen der Gegenwart“ bezeichnet wird, im April 2003 mit seinem erfolgreichen Konzert und Seminar den Beginn der seither jährlich stattfindenden Hamburger Gitarrentage markiert hat, ist er in Hamburg ein gern gesehener Gast und beliebter Workshopdozent. So hatte Christian Moritz, Veranstalter der Gitarrentage und selbst als Gitarrist, Gitarrenlehrer und Autor des Internetportals GitarreHamburg.de tätig, auch in diesem Jahr wieder ein Konzert und einen Workshop mit Johannes Tonio Kreusch organisiert.
Schon zu Beginn seines Konzertes wird deutlich, dass es sich bei Johannes Tonio Kreusch nicht um einen Künstler handelt, der ausgetretene Pfade betritt, sondern der seine Zuhörer mit auf eine musikalische Entdeckungsreise nehmen möchte. Kreuschs Konzert beginnt mit dem Moment, in dem sich die Türe zum Backstage-Raum öffnet und er mit zarten, filigranen Klangmalereien den Konzertsaal betritt und damit, noch ehe er die Bühne erreicht hat, das Publikum in seinen Bann zieht. Seine anschließenden Begrüßungsworte lässt er hineinfließen in die improvisierte Eingangsmusik, die er selbst als „Klang-Einatmen“ bezeichnet. Mit ihr ertastet er nicht nur den Klangraum des jeweiligen Konzertsaales, sondern stellt gleich zu Beginn auch eine sehr persönliche Verbindung zum Publikum her.
Die Unmittelbarkeit der Improvisation und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten, schöpferisch aus dem Augenblick zu gestalten, haben für Johannes Tonio Kreusch große Bedeutung. Gleichzeitig ist er aber auch ein Musiker, der sich einem auskomponierten Notentext mit größtmöglicher Genauigkeit und Achtung nähert. Zum Studium eines Werkes gehört für ihn daher auch, alle Quellen zu untersuchen und die Komposition damit bis ins letzte Detail verstehen zu lernen. Werke des Barock und der Lateinamerikanischen Moderne, deren Ursprung oft in der Improvisation liegt, bilden Schwerpunkte seines Repertoires. Kreuschs einzigartige Einspielungen, beispielsweise der Lautensuite in e-Moll von J. S. Bach (BWV 996), genießen weltweite Anerkennung. Gleiches gilt für seine Aufnahmen der Kompositionen von Heitor Villa-Lobos, die von der Presse als „neue Referenzeinspielung seit den Aufnahmen von Julian Bream und Narciso Yepes“ bezeichnet wurden. In der akribischen Auseinandersetzung mit Villa-Lobos´ Originalhandschriften hat er neben nicht veröffentlichten Passagen und fehlerhaften musikalischen Wendungen auch viele Feinheiten und Variationen entdeckt, die völlig neue Interpretationsmöglichkeiten zulassen und in den heute bisher erhältlichen Ausgaben verloren gegangen sind. Durch diese neuen harmonischen, melodischen und interpretatorischen Ideen wird auch Villa-Lobos’ unmittelbare, von der Improvisation geprägte, musikalische Herangehensweise deutlich. So hat Villa-Lobos seine Werke immer wieder überarbeitet und neue Klangideen geschaffen.
Diese kompositorische Auffassung als verbindendes Element lieferte dann auch die Grundlage der Programmauswahl für das Hamburger Konzert, in dem Johannes Tonio Kreusch seine eigene Musik Werken von Villa-Lobos gegenüberstellte. Auf faszinierende Weise entführte Kreusch seine Zuhörer in eine Welt jenseits von Hektik, Leistungsorientiertheit und Materialismus. So zum Beispiel mit seinem aus der Improvisation entstandenen Kompositionszyklus „Crystallization“. Die überragende Virtuosität seines Spiels steht ausschließlich im Dienste der Musik und nie der Selbstdarstellung. Größten Wert legt Kreusch auf eine reiche Klangfarbengestaltung, die sein Spiel lebendig und abwechslungsreich hält. In seinen eigenen Werken erweitert er häufig die Klangräume der Gitarre, in dem er Präparationen und unterschiedliche Scordaturen (Saitenstimmungen) einsetzt. Von Villa-Lobos erklangen die Manuskriptversionen der Präludien und einiger Etüden, welche für die Gitarrenwelt zum Standardrepertoire gehören aber durch die ungewöhnliche Herangehensweise Kreuschs in einem neuen Licht erschienen. Vermutlich niemand aus dem Publikum kannte wohl das erst kürzlich wieder entdeckte Valse-Chôro” (nicht zu verwechseln mit dem “Valsa-Chôro” – aus der “Suite populaire brésilienne“). Hier handelt es sich um ein spannendes neues Gitarrenwerk voller überraschender Wendungen, das zu den Perlen der Gitarrenkompositionen des Heitor Villa-Lobos zählen dürfte. Als Zugaben gab es dann noch zwei Transkriptionen, die trotzdem zu den „Klassikern“ der Gitarrenmusik gehören: Zunächst die von Kreusch durch Einsatz der Campanella-Technik so aufregend anders als gewohnt klingende Allemande aus der e-Moll-Suite von J. S. Bach und, als der Applaus nicht enden wollte, Isaac Albéniz´ bekanntes Asturias, das der Ausnahmemusiker temperamentvoll und leichtfüßig in ebenso vollendeter Weise interpretierte.
Erwartungsgemäß war auch das für die beiden Folgetage angesetzte Seminar voll ausgebucht. Zu Beginn jedes Seminartages standen Ensemble- und Improvisationsarbeit auf dem Programm. Dies gab den Kursteilnehmern auch die Möglichkeit, sich näher zu begegnen und aufeinander zuzugehen. Während der anfänglichen Arbeit an einem Bach-Choral wurde deutlich, wie wichtig die Kammermusik für Johannes Tonio Kreusch ist: das aufeinander Hören, das Ausloten der klanglichen Möglichkeiten, die ein Ensemble bietet, das Umsetzen dessen, was in einer Komposition liegt – all´ dies sind für ihn wichtige Elemente eines gegründeten gemeinsamen Musizierens. Beim Improvisieren ohne Noten und harmonische Vorgaben stand das miteinander Kommunizieren lernen im Mittelpunkt der musikalischen Arbeit. Trotz der relativ kurzen Probenzeit erreichte das Seminarensemble bald einen erstaunlich warmen und homogen atmenden Zusammenklang und vermochte einiges an gestalterischem Potential umzusetzen.
Anschließend folgten die Einzelunterrichtsstunden. Wer gerade nicht selbst unterrichtet wurde, konnte dem Unterricht beiwohnen oder sich in einen der weiteren zur Verfügung stehenden Räume zurückziehen, um allein zu proben oder mit anderen zu musizieren. Mit der gleichen Genauigkeit, Aufmerksamkeit und Tiefe, mit der Johannes Tonio Kreusch musiziert, Musik einstudiert und probt, widmet er sich auch seinen Schülern. Als Kreusch-Schüler sollte man schon ausgeschlafen sein, um die nötige Aufmerksamkeit, für das, was er zu vermitteln hat, mitbringen zu können. Niemals entsteht jedoch Leistungsstress, nie stellt Kreusch sich über seine Schüler oder vertritt festgefahrene Dogmen. Wie vermeidet man die Rutschgeräusche während der ständigen Lagenwechsel in der 1. Etüde von Villa-Lobos, ohne auf fließende Legato-Übergänge verzichten zu müssen? Wie erreicht man einen Tirando-Anschlag, der genauso warm und kraftvoll klingt wie ein Apoyando? Welche spieltechnischen Möglichkeiten gibt es, die reichhaltigen Verzierungstechniken des Barock auf der Gitarre umzusetzen? So lauteten einige Fragestellungen, die sich im Unterricht ergaben. Kreuschs Lösungsvorschläge konnten von den Teilnehmern häufig überraschend schnell umgesetzt werden.
Zur Freude vieler gab es die Möglichkeit, eines der druckfrischen Exemplare des vor kurzem erschienenen Heftes mit 12 seiner Etüden zu erwerben. Neben didaktischen Erläuterungen enthält das Heft auch eine CD, die die kurzen aber so gar nicht nach Übungswerken klingenden Kompositionen von Kreusch selbst eingespielt enthält. Das Etüdenheft kann unter info@johannestoniokreusch.com bestellt werden.
Wegen der übergroßen Teilnehmerzahl endete das Seminar am Sonntag nicht wie angesetzt um 16:00 Uhr sondern erst gegen 21:30, was allen ein wenig planerische Flexibilität abverlangte. Einige Teilnehmer hatten noch viele hundert Kilometer Heimweg vor sich und mussten entsprechend früh aufbrechen. In den herzlichen Verabschiedungsszenen, die sich über den Nachmittag bis zum Abend verteilten, spiegelte sich die äußerst fruchtbare Arbeit und angenehme Atmosphäre der vergangenen Tage wider.