Johannes Tonio Kreusch ist einer der deutschen Gitarristen, der auch auf internationaler Ebene nahezu uneingeschränkte Anerkennung genießt. Mit innovativen musikalischen Projekten – die sich im Spannungsfeld von Klassik und Jazz bewegen – gelingt es dem Dozenten der Münchener Hochschule für Musik immer wieder, musikalisch zu überraschen und zu überzeugen. Schon im Jahr 2002 konnten wir den sympathischen Ausnahmegitarristen für ein Interview gewinnen. Nun freuen wir uns, ihnen die Fortsetzung dieses hochinteressanten Gesprächs bieten zu können.
Das Interview führte Christian Moritz.
Christian Moritz: Seit unserem letzten Interview im Jahr 2002 hat sich einiges bei Dir getan. Dein musikalischer Schwerpunkt lag in letzter Zeit besonders auf der Interpretation von eigenen Werken wie der “Siddhartha-Suite” oder der mit Markus Stockhausen eingespielten CD “Panta Rhei”. Wie wurde dies von der Gitarrenszene auf- bzw. angenommen?
Johannes Tonio Kreusch: Für mich ist eigenes kreatives Schaffen im Sinne von Improvisieren oder eigenem Komponieren immer wichtiger geworden. Nach der intensiven klassischen Ausbildung und nach vielen Jahren der Fokussierung hauptsächlich auf Interpretation und Reproduktion von musikalischen Ideen und Gedanken anderer Komponisten habe ich nun einmal eine Zeit gebraucht, in der ich mich mehr auf meine eigene innere musikalische Stimme besinnen wollte. Das heißt nicht, dass ich gar nicht mehr an Musik anderer Komponisten arbeite, aber der Schwerpunkt liegt doch, wie gesagt, zur Zeit auf meiner eigenen Musik.
Um auf Deine Frage zurückzukommen, wie dies angenommen wurde. Als ich die Einspielung der Villa-Lobos Etüden veröffentlicht hatte, da habe ich eigentlich ein ähnlich gestaltetes Feedback wie auf meine momentane Arbeit bekommen. Generell waren die Reaktionen sehr positiv. Häufig wurde beispielsweise zum Ausdruck gebracht, dass es wohltuend sei, diesen wohlbekannten und oft interpretierten Etüdenzyklus einmal von einer anderen Seite her beleuchtet zu hören und dass hier beispielsweise nicht die Geschwindigkeit zum Hauptzweck der Interpretation gemacht wurde. Aber es gab auch Stimmen, die gemeint haben, dass man die Etüden noch nie so gespielt habe und dass es deshalb auch nicht richtig sei diese so zu interpretieren – es handle sich hier halt doch um ein technisches Etüdenwerk.
Ähnlich geht es mir bei meinen neuen Projekten mit eigener Musik. Auf der einen Seite begegnet mir Skepsis, da es doch unüblich ist für einen klassischen Musiker, den man hauptsächlich als Interpreten kennt, plötzlich Konzerte ausschließlich mit improvisierter Musik zu geben. Andererseits erlebe ich aber eine große Offenheit, da gerade durch Improvisation etwas sehr Unmittelbares und Neues entstehen kann, was ein Konzert zu einem intensiven Erlebnis machen kann. Das Positive ist zudem, dass viele Veranstalter dankbar sind, auch einmal ein Konzert präsentieren zu können, welches nicht nur die bekannten Pfade beschreitet.
C. M.: Mit „Panta Rhei“ hast Du Dich auch beim Einsatz der Instrumente etwas vom klassischen Genre entfernt. So hast Du z.B. auch sechs- und zwölfsaitige Stahlsaitengitarren eingesetzt. Ist das nicht eine starke Umgewöhnung als klassischer Gitarrist auf einmal auf einer Stahlsaitengitarre zu spielen? Leiden da nicht auch die Fingernägel?
J. T. K.: Da ich generell mit sehr kurzen Fingernägeln spiele und immer versuche aus einer sehr lockeren und nie forcierten Handbewegung heraus zu spielen, habe ich eigentlich keine Probleme mit meinen Fingernägeln. Da sind auch Stahlsaiten kein Problem. Sicher hilft ein bisschen, dass ich immer mit geschliffenen Saiten spiele, die mir auch vom Klang her sehr viel besser gefallen. Für denjenigen, der nach solchen Saiten sucht, sei gesagt, dass die besten geschliffenen Saiten für klassische Gitarre derzeit meiner Meinung nach von Hannabach und GHS produziert werden.
Es ist natürlich klanglich jedes Mal eine Umgewöhnung, wenn ich von der klassischen Gitarre auf eine Stahlsaitengitarre wechsle. Der weiche und nuancierte Ton einer klassischen Gitarre ist meines Erachtens durch nichts zu ersetzen. Aber gerade für meine Crossoverprojekte ergeben sich sehr schöne Klangmöglichkeiten mit anderen Instrumenten, besonders, wenn ich mehr in das rhythmische und perkussive Spiel wechsle. Auf der CD „Panta Rhei“ gehe ich zusammen mit dem Trompeter Markus Stockhausen stark in die Richtung von Jazz. Ich verwende für dieses Projekt auch Live-Sampling und viele verschiedene Gitarrenstimmungen, was natürlich z.B. bei einer zwölfsaitigen Gitarre ungewöhnliche Klangräume ermöglicht.
C. M.: Wirst Du Dich auch in Zukunft mit ähnlichen Projekten präsentieren oder wird das klassische Repertoire weiterhin eine Rolle in Deiner musikalischen Arbeit spielen?
J. T. K.: Die klassische Musik und das damit verbundene Repertoire für Gitarre ist – und wird es immer bleiben – ein zentrales Herzstück meiner Arbeit. Dabei empfinde ich, dass sich das Interpretieren und das eigenkreative Schöpfen sehr befruchten können. Um wieder auf meine Beschäftigung mit den Villa-Lobos Etüden zurückzukommen: mir hatte beispielsweise sehr geholfen zu wissen, dass Villa-Lobos selbst ein großartiger Improvisator gewesen ist, der in seinen Werken diesen unmittelbaren Geist der Improvisation immer durchscheinen lässt. Das erklärt auch, weshalb seine Handschriften von ein und demselben Stück immer wieder voneinander abweichen. So habe ich auch versucht, bei der Interpretation seiner Musik improvisatorisch heranzugehen und diese Musik von einer anderen Seiten her zu beleuchten und auch ein bisschen so zu tun, als würde ich damit improvisieren.
Ein anderes Beispiel ist die Arbeit mit zeitgenössischen Komponisten. Wenn ich mit einem Komponisten zusammenarbeite, wie ich dies zum Beispiel mit dem kubanischen Komponisten Tulio Peramo für meine CD “Portraits of Cuba” gemacht habe, dann ist das kein einseitiger Prozess. Ich frage den Komponisten nicht einfach nach einem Stück und warte dann ab, was ich wohl bekommen werde. Ich möchte im Gegenteil an der Entstehung Anteil nehmen und eigenkreativ mitarbeiten, damit wirklich Musik entsteht, die mit uns beiden verbunden ist.
Ein weiteres Feld innerhalb der “klassischen Musik”, in der neben dem Interpretieren intensive Eigenkreativität gefragt ist, ist zum Beispiel der für uns Gitarristen immens wichtige Bereich der Transkription. Durch Transkriptionen können wir unser Repertoire substantiell erweitern und zudem unsere Fähigkeit und Offenheit zum eigenen Gestalten unter Beweis stellen.
C. M.: Welche zeitgenössischen Komponisten interessieren Dich besonders, bzw. gibt es zeitgenössische Komponisten von denen Du hoffst, dass Sie in Zukunft Werke für unser Instrument schaffen werden?
J. T. K.: Es wäre schön, wenn besonders die junge Generation der Komponisten die Gitarre immer mehr für sich entdecken und neue Musik für unser Instrument schreiben würde. Ich denke, dass es spannender ist, wenn ein Komponist kontinuierlich an Musik für Gitarre arbeitet, als dass ein berühmter Komponist ein einziges Auftragswerk für die Gitarre schreibt und danach sich nicht mehr mit diesem Instrument auseinandersetzt. Auch in diesem Fall können natürlich wichtige und substantielle Werke entstehen, man denke nur an Ginasteras Sonate für die Gitarre. Aber wenn ein Komponist der Gitarre einen größeren Raum in seinem Schaffen einräumt, dann kann er im besten Fall immer tiefer in die Seele dieses Instrumentes blicken und aus dieser Erfahrung heraus noch einmal intensiver Beiträge zur unbedingt notwendigen Repertoireerweiterung für unser Instrument liefern. Ich hatte diese Erfahrung beispielsweise wiederum mit dem kubanischen Komponisten Tulio Peramo gemacht. Nach unserer Begegnung hat er über Jahre hinweg sein Schaffen stark auf die Gitarre ausgerichtet und dadurch wirklich wunderbare und substantielle Werke für die Gitarre geschrieben. Dabei habe ich erfahren dürfen, dass seine Werke im Laufe seiner Arbeit immer intensiver wurden und immer stärker den Geist der Gitarre getroffen haben. Er hat durch seine Solo- und Kammermusikwerke in meinen Augen wirklich Neues für die Gitarre geschaffen. Das ist sicher auch dadurch möglich geworden, dass er sich so intensiv der Gitarre gewidmet hat.
C. M.: Improvisation hat, wie schon erwähnt, bei Deinen letzten Projekten eine wichtige Rolle gespielt. Wie gehst Du an dieses – für klassische Gitarristen ja nicht unbedingt übliche – Thema heran? Sind Deine Improvisationen komplett frei?
J. T. K.: Die Inspiration meiner Musik kommt aus der Stille. Deshalb suche ich besonders nach den leisen Tönen in der Musik. Ich möchte den Zuhörer damit einladen, sich auf Neues einzulassen und bekannte Hörmuster zu hinterfragen. Improvisation will immer ein gemeinsamer Akt sein, an dem Spieler und Zuhörer gemeinsam beteiligt sind. Wenn also beide Seiten aktiv am Prozess beteiligt sind, dann kann das Experiment gelingen.
In den meisten Fälle greife ich in meinen Improvisationen auf Material zurück, welches ich mir im Vorhinein erarbeitet habe. Ich würde meine Improvisationen daher eher “spontan entstehende Kompositionen” nennen. Also Kompositionen, die zu einem großen Teil aus improvisatorischen Elementen entstehen. Ich erarbeite mir beispielsweise bestimmte Themen oder Harmonieabläufe, die dann frei verwendet, verarbeitet und – wie das lateinische Wort “componere” besagt – zusammengesetzt werden. Ich verwende zudem die verschiedensten Präparationen und Saitenstimmungen, was eine vorherige Auseinandersetzung mit den dadurch verbundenen Klangmöglichkeiten voraussetzt. Ich gehe also in den seltensten Fällen ganz frei und ohne “Absicherung” auf die Bühne. Dazu bin ich wohl dann doch zu stark klassischer Musiker! Aber wenn ich mich an ein neues Stück herantaste um etwas Neues zu entwickeln, dann tue ich dies ganz im Sinne der freien Improvisation.
Mir ist es immer wichtig, experimentell an Musik heranzugehen und damit auch neue Wege der Interpretation zu beschreiten. Nach vielen Jahren der Auseinandersetzung mit klassischer Literatur war es für mich nun an der Zeit, einen gänzlich neuen Weg zu beschreiten. Klassische Musik wird heutzutage oft als etwas Starres gesehen, das man nicht berühren oder verändern darf. Dabei war Improvisation in früheren Epochen immer ein wichtiger Bestandteil der Musizierkunst. Musik, und das dürfen wir in Zeiten der maschinellen Reproduzierbarkeit nie vergessen, muss sich immer dieses “aus dem Moment” Geschöpfte bewahren. Ein bloßes Abspielen von Mustern und Gelerntem führt nicht wirklich zum Ziel.
C. M.: „Siddhartha“ und „Panta Rhei“ basieren auf außermusikalischen Themen, die sich insbesondere mit Sinnsuche und Selbstfindung beschäftigen. Wie wichtig sind philosophische und spirituelle Inhalte als Inspirationsquelle für Dich?
J. T. K.: Philosophie im engeren aber auch im weiteren Sinne hat mich immer schon angezogen. Ich habe deshalb nach dem Abitur erst einmal Philosophie studiert. Musik ist ja ein Medium, durch das sich eine Geistige Welt unmittelbar aussprechen kann. Der Dirigent Sergiu Celibidache hat einmal gesagt, dass man durch Musik Gott am nächsten sein kann. Dieses Erleben – denke ich – regt zu weiterem Nachdenken und Suchen an. Für mich ist diese Suche nach dem Urgrund der Welt jenseits des Materiellen und nach der eigentlichen Bestimmung der eigenen Existenz ein starkes inneres Bedürfnis. Bei “Siddhartha” beispielsweise hat mich nicht die Idee der östlichen Philosophie angeregt sondern das ständige Suchen, welches am Ende mit Finden belohnt wird. Auch Heraklits Ausspruch “Panta Rhei”, was soviel wie “alles fließt” bedeutet, geht für mich in diese Richtung.
C. M.: Im vergangenen Herbst hast Du Konzerte mit dem Tenor der Metropolitan Opera Anthony Dean Griffey in den USA gegeben. Den Pressestimmen beispielsweise der New York Times nach scheinen diese sehr erfolgreich verlaufen zu sein!?
J. T. K.: Den Tenor Anthony Dean Griffey kenne ich von meiner Studienzeit an der Juilliard School. Seit dieser Zeit spielen wir zusammen. Im vergangenen Herbst hatte er sein Debut in der Carnegie Hall, zu dem er mich neben André Previn eingeladen hatte. Ich habe für dieses Konzert u.a. eigene Arrangements amerikanischer Lieder von Aaron Copland und auch von bekannten Spirituals erarbeitet. Da die Gitarre eines der wichtigsten amerikanischen Folkinstrumente ist, empfinde ich diese Arrangements auch als eine Art Rückführung zum Originalklang. Durch die Verwendung von Präparationen oder Hilfsmittel wie Plektron oder Bottle Neck hat die klassische Gitarre dann u.a. wie ein Banjo oder eine Slide Gitarre geklungen.
C. M.: Für Deine Einspielung der 12 Etüden von Heitor Villa-Lobos hast Du 2004 den französischen “Classica Repertoire”- Preis erhalten. Was bedeutet Dir diese Auszeichnung?
J. T. K.: Es ehrt mich natürlich, dass in der Begründung zu lesen war, dass meine Einspielung die neue Referenzaufnahme seit den Einspielungen von Narciso Yepes und Julian Bream sei. Wie man zu solchen Vergleichen oder Preisen überhaupt auch stehen mag, diese Auszeichnung hat mich doch sehr gefreut. Zum einen, da ich auf dieser CD wirklich sehr bekannte und von allen großen Gitarristen interpretierte Musik aufgenommen habe und ich mir trotzdem mit einer andersartigen Interpretation und Herangehensweise Gehör verschaffen konnte. Immerhin muss man sich bei diesem Repertoire mit sehr großen Interpretationen vergleichen lassen und vor diesen bestehen. Zum anderen hat es mir gezeigt, dass man auch in der heutigen schnelllebigen Zeit immer auf seine eigene innere Stimme hören muss, um sein künstlerisches Anliegen zu verwirklichen. Also Stimmen wie, “das spielt man so nicht” oder “das verkauft sich doch nicht” sind wirklich zweitrangig auf der Suche nach eigener künstlerischer Identität.
C. M.: Du schreibst seit einiger Zeit in einer großen deutschen Gitarrenzeitung einen eigenen Klassik Workshop. Wie wichtig ist es Dir über Musik zu schreiben ?
J. T. K.: Ich schreibe immer wieder für diverse Fachzeitungen im In- und Ausland. Für mich ist dies eine wichtige Möglichkeit, mich noch intensiver mit der Musik oder dem jeweiligen Thema, mit dem ich mich im Augenblick beschäftige, auseinanderzusetzen. Egal, ob ich an den Villa-Lobos Etüden arbeite oder an einer Bach Suite, ein intensives Quellenstudium kann die Interpretation immer befruchten.
C. M.: In diesem Jahr wirst Du vom 03.- 05. Juni ein ganz spezielles Seminar anbieten, dessen Themenschwerpunkte das Auftrittstraining und die Vorbereitung auf eine Aufnahmeprüfung an Hochschulen, Konservatorien, Berufsfachschulen usw. sind. Was war die Intention für ein derartiges Angebot?
J. T. K.: Auftrittsschwierigkeiten, wie Ängste oder das Problem des Leistungsabfalles in Stresssituationen sind für viele Musiker ein großes Problem. Die Idee zu diesem Kurs kam mir, da ich auf meinen Kursen und Seminaren immer wieder danach gefragt werde, wie man solche Prüfungssituationen besser meistern kann. Auch habe ich mich selbst jahrelang mit diesem Thema beschäftigt, da dies auch für mich immer ein existentieller Punkt war. Ich möchte während des Kurses also meine eigenen Erlebnisse und die Erfahrungen, die ich mit meinen Schülern gemacht habe, einfließen lassen sowie Hilfestellungen und Tipps zur Bewältigung geben. Der Kurs ist so aufgebaut, dass das eigene Vorspielen und Auftreten für jeden der Teilnehmer eine zentrale Stellung einnehmen wird. Es wird kein herkömmliches Dozentenkonzert geben, sondern zwei Konzerte, in welchem sich die Teilnehmer zusammen mit mir vorstellen können. Dabei sollen während des Kurses die Erfahrungen während dieser Auftritte nachgearbeitet und Lösungsmöglichkeiten bei etwaigen Schwierigkeiten aufgezeigt werden.
C. M.: Was hältst Du eigentlich von der Art und Weise, in der die Eignungsprüfungen an den Hochschulen durchgeführt werden?
J. T. K.: Es ist wirklich sehr schwierig durch ein einziges Vorspiel beurteilen zu können, ob ein Bewerber begabt und qualifiziert für ein Musikstudium ist. Es hängt doch viel von der Tagesform und überhaupt auch von der Entwicklungsfähigkeit der jeweiligen Person ab. Was heißt denn überhaupt “qualifiziert für ein Studium” ? Gerade wenn es beispielsweise um die pädagogische Eignung geht, die ja für Musiker von besonderer Bedeutung ist, da das Unterrichten für die meisten Absolventen in irgendeiner Form zum Berufsalltag gehören wird, dann zählen doch nicht ausschließlich technische Fähigkeiten sondern u.a. ein ausgeprägtes Sozialverhalten, Begeisterungsfähigkeit und die Fähigkeit sich auf andere einzulassen. Beim Lehramtsstudium für Musik sieht man dies sehr stark. Die Anforderungen für die Aufnahmeprüfung im künstlerischen und wissenschaftlichen Bereich sind oft so hoch, dass man nur mit einer intensiven musikalischen Förderung schon während der Schulzeit die Chance hat, die Aufnahmeprüfung zu bestehen. Interessierte und pädagogisch Begabte, die diese nicht erfahren durften, haben dann meist nicht die Möglichkeit ein solches Studium aufzunehmen. Fakt ist, dass wir vielerorts einen eklatanten Mangel an Schulmusikern haben. Heißt dass vielleicht, dass viele wirklich Interessierten oft gar nicht erst das Studium aufnehmen können.
C. M.: Seit einiger Zeit bist Du als Dozent an der Musikhochschule in München tätig und unterrichtest am Musikpädagogischen Institut der Universität in München. Welche Inhalte sind Dir bei der Arbeit mit dem gitarristischen Nachwuchs ein besonderes Anliegen?
J. T. K.: Mir ist es ein Anliegen, meine Schüler selbst zu Musikvermittlern, d.h. zu motivierten Lehrern, zu machen. Es ist für mich viel wichtiger, einen Schüler zu einem begeisterungsfähigen Pädagogen heranreifen zu sehen, als dass aus ihm ein bekannter Solist wird, der sich in Wettbewerben behaupten kann. Die Fähigkeit und Freude am Vermitteln von Musik ist für mich eine sehr wichtige Voraussetzung für einen Musiker. Auch wenn die Realität so aussieht, dass die musikalische Bildung durch Sparzwänge immer mehr beschnitten wird und Musiklehrer immer schlechter entlohnt werden: wenn gute Musikkultur überleben soll, dann muss es so viele Musiker wie möglich geben, die sich dafür einsetzen, dass die Musik in alle Schichten, ob arm oder reich, jung oder alt, getragen wird. Große Teile der Gesellschaft oder besser gesagt, der Politik, begreift immer noch nicht, wie wichtig gerade die Musikerziehung für eine gesunde Gesellschaftskultur ist. Dabei spreche ich hier explizit nicht von musikalischer Eliteförderung. An Berliner Grundschulen hat man vor einiger Zeit beispielsweise eine Studie zur Wirkung von Musik auf das Verhalten von Schulkindern durchgeführt und erweiterten Musikunterricht angeboten. Dafür hat man bei den Hauptfächern die Unterrichtszeit reduziert. Die fehlende Zeit bei den Hauptfächern durfte dabei nicht durch mehr Hausaufgaben kompensiert werden. Die schulischen Leistungen der Testschüler mit Schwerpunkt Musik lagen während des Versuchs dabei im Durchschnitt meist über denen der Vergleichsgruppen. Durch die aktive Beschäftigung mit Musik werden aber nicht nur intellektuelle Fähigkeiten sondern auch die soziale Kompetenz gefördert. Am Ende der Studie gab es in den Testklassen beispielsweise keine Außenseiter mehr.
Mit der Musik kann man jungen Menschen mehr mitgeben als die Beherrschung von bestimmten Fertigkeiten: einen Sinn für das Schöne, ein Gefühl für das, was schützenswert ist und menschliche Erfahrungen der Gemeinsamkeit, die jenseits von Geld und materiellen Dingen liegen.
“Wo man singt, da lass Dich nieder, böse Menschen haben keine Lieder”, diese alte Volksweisheit hat sicher einen sehr tiefgreifenden Sinn. Im Laufe der oben zitierten Studie zum erweiterten Musikunterricht hat eine junge Schülerin die berührende Frage gestellt, woher es denn komme, dass sie nach dem Musizieren immer so friedlich sei. Hätte die Musik einen anderen Stellenwert in unserer Gesellschaft, und würde die Politik weniger darauf bedacht sein, den Wirtschaftinteressen der Industrie nachzukommen sondern dem flächendeckenden Bildungsabbau entgegenzuwirken, dann sähe unsere Welt sicher anders aus als heute.
C. M.: Glaubst Du, dass es im Lehrbetrieb an den Hochschulen Innovationsbedarf gibt?
J. T. K.: Ich denke, dass das Studium facettenreicher gestaltet sein müsste. Es müsste mehr vermittelt werden als die perfekte Beherrschung von Tasten und Saiten. Was zum Beispiel fehlt, ist eine Vorbereitung auf die Wirklichkeit und Realität des Berufs als Musiker. Wer Musik zu seinem Beruf machen will, sollte dies niemals aus Eitelkeit heraus tun oder mit dem Ziel, ein Star in der Öffentlichkeit werden zu wollen. Nur wer sich ganz dem Dienst der Musik verpflichtet, kann den Herausforderungen begegnen, die auf ihn warten. Wie in so vielen Bereichen unserer Gesellschaft hat auch in der Musik die industrielle Vermarktung und Standardisierung längst Einzug gehalten. Individuelles wird nur auf dem Hintergrund der totalen Selbstdarstellung akzeptiert. Dabei kann man durch Musik ja besonders auch Kinder und Jugendliche erreichen und ihnen dadurch eine Hilfe in der oft problematischen Alltagswelt bieten. Wird aber schon den Kindern im Unterricht ein spielerischer individueller Umgang mit Musik verunmöglicht, durch einseitige Orientierung an vermeintlichen Standards und an einer perfekten Beherrschung des Instrumentes, dann kann das fatale Folgen haben.
Daher sollte sich jeder Lehrer in der musikalischen Berufsausbildung fragen, inwieweit die Arbeit an technischer Höchstleistung und Wettbewerbserfolgen wirklich ausreichende Berufsvorbereitung ist oder ob die Studenten damit nur in eine künstliche Welt getrieben werden, die mit der späteren Berufsrealität wenig zu tun hat.
Ich denke, als Lehrer sollte man ständig darauf bedacht sein an sich selbst zu arbeiten und immer wieder seine eigenen Meinungen und Herangehensweisen zu hinterfragen. Der französische Schriftsteller Jules Renard hat einmal in beeindruckenden Worten ausgedrückt, was wir Lehrer uns immer vor Augen halten sollten: “Keiner zeigt uns unsere Fehler so deutlich wie ein Schüler“.
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