Titel: Schule der Gitarre – Darstellung der Instrumentalen Theorie
Autor: Abel Carlevaro – Aus dem Spanischen von Rüdiger Scherping
Verlag: Chanterelle
ISMN: M-2047-0107-0
“Geist und Materie sind zwei Kräfte, die sich für die Erschaffung von Kunst vereinen müssen. Dabei wird die Materie vergeistigt, und der Geist erhält eine konkrete Form. Die Kunst gehört in das Reich des Geistes; die Technik in den Bereich des Verstandes. Aus der Vereinigung dieser beiden Elemente entsteht das Kunstwerk, als wahre vom Menschen geschaffene Symbiose.” Abel Carlevaro (1916-2001)
Der aus Uruguay stammende Gitarrist, Komponist und Gitarrenpädagoge Abel Carlevaro hat die Gitarristik der Gegenwart in entscheidender Weise beeinflusst. Als ambitionierte/r Gitarrist*in wird man sich früher oder später sicher mit der methodischen Hinterlassenschaft Carlevaros auseinandersetzen. Das vorliegende Buch ist die deutsche Übersetzung seiner erstmals 1979 erschienen “Escuela de la Guitarra: Expositión de la Theoría Instrumental”. Hierin beschreibt er in äußerst detaillierter Weise die von ihm entwickelte Theorie der Gitarre, wie er sie weltweit in seinen unzähligen Meisterkursen und Unterrichtsstunden weitergegeben hat. Eine große Zahl international anerkannter Gitarrist*innen verdanken ihr Können nicht zuletzt der Methode und dem Unterricht Carlevaros. Die Aufzeichnungen basieren auf einer Reihe von Vorträgen, die Abel Carlevaro seinem Schüler und Freund Alfredo Escande diktiert hat. Die Erläuterungen beziehen sich insbesondere auf seine in vier Bänden erschienene “SERIA DIDACTICA PARA GUITARRA”.
“Dieses Buch versucht, eine Lösung für die komplexen Probleme zu finden, die mit der instrumentalen Mechanik und dem lebendigen musikalischen Gestalten verbunden sind. Ihre Verbindung muss so eng und subtil sein, dass nicht erkennbar ist, wo das eine beginnt und das andere endet, denn beide streben zum gleichen Ziel. Um dies jedoch zu verwirklichen, benötigt man vorher eine gewisse Zeit, eine Zeit des Lernens, um das Aufgenommene dann in ein lebendiges musikalisches Produkt zu verwandeln.”
In diesem Zitat aus dem Vorwort konzentriert sich das Besondere an Carlevaros gitarristischem Ansatz. Obwohl er einzelne Aspekte wie Körperhaltung, Haltung des Instruments, Haltung der Hände, Anschlagsbewegung der einzelnen Finger, Tongebung, Nagelform, Dynamik, Klangfarbe usw. fast mikroskopisch genau analysiert und in seine kleinsten Teile zerlegt und darstellt, zeigt er auf, wie sich die einzelnen Parameter gegenseitig beeinflussen und auf das spätere Ergebnis – den musikalischen Vortrag – auswirken.
Die Basis von Carlevaros Methode ist die Einbeziehung des gesamten Körpers in seine instrumentale Theorie, die auf seinen Beobachtungen der natürlichen Bewegungsabläufe beruht. Hierbei führt er alles auf seine elementarsten Details zurück. Das beginnt schon im ersten Kapitel “Das Halten der Gitarre”. Minutiös beschreibt Carlevaro wie Gitarrist*innen eine “Position des stabilen Gleichgewichts” erlangen können. Schon hierin gibt es auch den ersten großen Unterschied zu herkömmlichen Methoden. Während die meisten klassischen Gitarrist*innen eine Haltung einnehmen, bei der beide Füße nach vorne gesetzt werden, ist Carlevaro der Überzeugung, dass zur Erlangung eines stabilen Gleichgewichts der rechte Fuß nach hinten gesetzt werde sollte und begründet dies eingehend. In den folgenden Kapiteln wird die Aufmerksamkeit dann auf alle nur erdenklichen Bewegungsabläufe gelenkt, denen Gitarrist*innen bei der Interpretation eines Werkes begegnen können. Im Vordergrund steht immer das Ziel, einen musikalischen Inhalt durch die Entwicklung der hierfür notwendigen Spieltechnik wiedergeben zu können.
Auch für beide Hände ergeben sich in Carlevaros System grundlegende Unterschiede. Wird er nicht zur Artikulation (Glissando, Portamento) benötigt, wird beim Lagenwechsel komplett auf einen Führungsfinger verzichtet. Die notwendige Bewegung wird nur durch den linken Arm ausgeführt. Der angelegte Anschlag verliert bei Carlevaro seine Daseinsberechtigung. Die Spieltechnik der rechten Hand wird vom Prinzip des Impulses und der geistigen Vorwegnahme des Gegenimpulses dominiert. Die Erzeugung unterschiedlicher Klangfarben erfolgt nicht durch bloße Registerwechsel, sondern durch eine sehr bewusste Differenzierung des Anschlagswinkels. Dynamische Abstufungen werden durch den bewussten Einsatz der Muskelmasse, der sogenannten “Fixierung”, erzeugt. Hier auf alle Besonderheiten des Carlevaro-Konzepts einzugehen würde den Rahmen einer Buchvorstellung sprengen, denn es lässt kein Thema des Gitarrenspiels unberührt.
Alle Ausführungen werden mit anschaulichen Fotos und Zeichnungen abgerundet. Im Anhang findet man zudem ein Stichwortverzeichnis, eine Konkordanz wichtiger Begriffe und Definitionen.
Wie alle großen Innovator*innen hat Abel Carlevaro natürlich auch entschiedene Kritiker*innen. Manch eine*r mag ihm Pseudowissenschaftlichkeit, mangelnde Flexibilität oder gar Zwanghaftigkeit vorwerfen. Im Methodikunterricht von Hochschulen wird das Werk Carlevaros in Zukunft allerdings, neben den klassischen Standardwerken, einen festen Platz erhalten. Allen die sich ernsthaft mit der Gitarre auseinandersetzt oder gar Gitarrenunterricht geben, sei die Auseinandersetzung mit Carlevaros Hinterlassenschaft und die Lektüre der “Schule der Gitarre” ans Herz gelegt. Auch wenn man nicht die Philosophien und Überzeugungen des Autors übernehmen möchte, kann man doch von einer Fülle von Anregungen profitieren. Zudem kann auch die Abgrenzung zu Carlevaros umfangreicher instrumentaler Theorie und die damit verbundene intensive Reflexion des eigenen Spiels sehr positive Effekte haben.
Fast überflüssig zu erwähnen, das die “Schule der Gitarre” für die Anhänger*innen von Carlevaros Konzept selbstverständlich das Referenzwerk sein wird .
“Ich habe den Weg von Abel Carlevaros künstlerischem und pädagogischen Leben bewundert. Heute ist er ein gefeierter Maestro, ein bewunderter Virtuose und ein anerkannter Komponist.” – Andres Segovia (1893-1987)