Der klassische Gitarrist, Komponist und Pädagoge Wolfgang Lendle hat einen großen Anteil an der Entwicklung, welche die Gitarristik in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten erlebt hat. Durch seine gleichermaßen virtuose und musikalische Interpretation setzte er schon früh neue Maßstäbe, seine Lehrtätigkeit brachte so manches Talent zur Entfaltung und seine Kompositionen stellen gewiss eine Bereicherung für das Gitarren-Repertoire da. In diesem Interview skizziert Lendle wie er dieses hohe Niveau erreicht hat, spricht über seine berühmten Lehrer und gibt wertvolle Tipps und Ratschläge.
Das Interview führte Christian Moritz.
Christian Moritz: Wie und in welchem Alter haben Sie die Gitarre für sich entdeckt?
Wolfgang Lendle: Dies bin ich natürlich schon oft gefragt worden, es muss so im Alter von 8 oder 9 Jahren gewesen sein, als ich einige Gitarrenstücke im Radio gehört hatte. Sicher weiß ich nur, dass es Segovia war, der durch seinen bis heute unvergleichlichen Charme mich total gefesselt hat. Es war dies ein typisches Schlüsselerlebnis! So etwas wollte ich auch tun… auch können.
C. M.: Auf welche Weise haben Sie dieses hohe spieltechnische Niveau erreicht?
W.L.: Es war ein sehr langer Weg. Es klingt jetzt sehr unreif, aber ich muss gestehen, dass mich ganz am Anfang Virtuosität besonders fasziniert hat. Das ist ja oft so, dass sehr junge Leute zuerst mal “möglichst schnell” spielen wollen, bevor klar wird, worum es eigentlich geht! Mein erster Lehrer hat diesen Trend auch prinzipiell unterstützt…manche Lehrer verachten so etwas ja regelrecht. Er hat wohl gemerkt, dass ich manches wohl recht früh und vielleicht schon einigermaßen gut hinbekam. Natürlich war das relativ einseitig, und die wirklich wichtigen Dinge blieben zunächst unterbelichtet. Ich hatte dann auch auf dem ersten Kurs, den ich besucht hatte- das war auch schon eine ganz bedeutende Veranstaltung nämlich “Musica en Compostela” in Santiago de Compostela mit José Tomas und Andres Segovia selbst(!)- ein regelrechtes Schockerlebnis, als ich all die anderen Spieler aus aller Welt hörte mit Ihrem tollen Ton und geschliffenen Vortrag!- Aber zumindest seit dieser Zeit hatte ich dann andere Prioritäten in meiner Arbeits- bzw. Übeweise. Die technisch relativ gute Grundlage hat aber natürlich nicht geschadet.
C. M.: Was würden Sie jungen Musikern raten, die Ihnen nacheifern wollen?
W.L.: Nun, wenn einen jungen Menschen Musik oder ein spezielles Instrument früh begeistert, dann ist es sicher vorteilhaft auch sehr früh mit Unterricht zu beginnen. Dabei fällt dem ersten Lehrer eine immense Verantwortung zu, denn in seinen Händen liegt es jetzt, ob die Begeisterung anhält, sich gar steigert oder in Frustration umschlägt. Am besten ist es ganz sicher, wenn man früh in gute Hände kommt und im weiteren Verlauf zumindest technisch nicht nennenswert “umlernen” muss. Die musikalisch künstlerische Seite sollte natürlich von Anbeginn sorgfältig mitentwickelt, gepflegt und geführt werden, damit man Musik wirklich als Sprache in Tönen begreifen lernt. Aber wenn man sich auf eine verlässliche Technik stützen kann, die einen in Stresssituationen wirklich trägt, dann zehrt man davon u.U. ein ganzes Leben lang!
C. M.: Sie haben Unterricht von Gitarristen wie José Tomás, Alirio Diaz, Regino Sainz de la Maza und Andres Segovia erhalten. In wie weit sind sie vom Vorbild und Unterricht dieser Musiker beeinflusst worden?
W.L.: Jede dieser genannten Persönlichkeiten hat irgendeine Spur in meinem künstlerischen-, instrumentalen Denken und meinem gesamten Musikverständnis hinterlassen. Überhaupt halte ich es für sehr wichtig möglichst viele verschiedene Herangehensweisen kennenzulernen, um dann das für einen selbst Überzeugendste heraus zu finden. Alle vier Gitarristen waren ja auch total verschieden, ja teilweise von geradezu gegensätzlicher Natur und Auffassung.
An José Tomas hat mich vielleicht seine technisch und musikalisch absolut reine und saubere Darstellung besonders überzeugt. Von ihm habe ich anschlagstechnisch sicher am meisten profitiert.
Alirio Diaz war sicher der Mann für Stimmungen und Atmosphären, aber auch der, der sagen konnte : “mach das so”, oder “ich mache das so, damit die Interpretation mehr Feuer und Suggestion bekommt.”
R.Sainz de la Maza hatte wieder andere Qualitäten. Er konnte in dieser Zeit (frühe 70-er Jahre) schon sehr viel Bewusstsein für körperliche Lockerheit beim Spiel vermitteln und Segovia war natürlich sowieso “meine” Ikone, obwohl ich sagen muss, dass ich im direkten Unterricht von ihm vielleicht am wenigsten profitiert habe. (Er war einfach kein Pädagoge!). Aber wenn einmal die Worte nicht ausreichten und er selbst zum Instrument griff um ein Beispiel zu geben, dann war, auch wenn es nur um zwei Töne ging, die ganze Faszination seines Tons oder seiner Agogik präsent. Selbst heute, wo instrumentale Brillanz fast alltäglich ist, und Segovias Interpretationen sicher zu recht umstritten sind, berührt mich seine Art dieses Instrument zu behandeln immer noch.
C. M.: Noch in der jüngsten Vergangenheit waren technische Fertigkeiten und musikalisches Empfinden geradezu eine Antithese. Glauben Sie, dass dies immer noch der Fall ist, oder sehen Sie die Gitarristik in einer Entwicklungsstufe, welche die spieltechnischen Probleme in den Hintergrund treten lässt?
W.L.: Ja, ich sehe dieses Phänomen immer noch ein wenig, aber wirklich nur auf der Gitarre. Es ging früher tatsächlich sehr oft um “die Musiker” und “die Techniker”! Aber es hat sich durchaus etwas ausgeglichen und der “gekonnte” Umgang mit dem Instrument wird auch bei uns Gitarristen immer mehr zu Selbstverständlichkeit.
C. M.: Seit wann komponieren Sie?
W.L.: Eigentlich seit ich Gitarre spiele,…also etwa seit meinem 9.Lebensjahr. Aber die ersten Versuche sind natürlich sehr stümperhaft und einseitig virtuos! Das Experimentieren auch mit den Möglichkeiten des Instruments hat mich immer auch sehr angezogen. Später hatte ich dann während meines Studiums an der Musikhochschule Saarbrücken durch Clemens Kremer und Heinrich Konietzny zwei Professoren an der Hand, die mir halfen alles ein bisschen zu ordnen und mein Augenmerk auch ein bisschen in andere Richtungen, jenseits der Gitarre zu lenken.
C. M.: Komponieren Sie improvisatorisch (mit der Gitarre in der Hand) oder eher konzeptionell?
W.L.: Beides. Meist entsteht die Idee zu einem Stück am Instrument, aber die Ausarbeitung geschieht dann zumindest weitgehend am Schreibtisch.
C. M.: Hätten Sie etwas dagegen, wenn man Ihren Kompositionsstil als neoromantisch bezeichnet oder wehren Sie sich gegen jede derartige Klassifizierung?
W.L.: Neoromantisch ist vielleicht nicht so glücklich. Sehr oft haben meine Stücke einen Bezug zu irgendetwas, zu schon bestehenden Stücken oder zu einem Komponisten aus früherer Zeit. Ich versuche dann ein Werk oder einen Stil zu kommentieren oder auf “meine” Weise weiterzuspinnen oder zu entwickeln. Für “Humor in der Musik” oder auch “musikalische Komik” habe ich andererseits auch ein Faible, siehe u.a. auch meine “3 humoristic arrangements” von der Curiosities CD, oder meine “aniverary Paraphrase” (Happy Birthday), die demnächst bei Ed.Orphée erscheinen wird.
C. M.: Welchen Stellenwert haben Wettbewerbe und Meisterkurse für Sie?
W.L.: Meisterkurse halte ich grundsätzlich für sehr wichtig, vielleicht nicht unbedingt für jedes Ausbildungsstadium, aber einem schon ziemlich fortgeschrittenen Schüler kann man auch in 2 oder 3 Tagen eine Vielzahl von Tipps aller Art geben, die ihn sehr motivieren können , ja ihm viele neue Perspektiven eröffnen können. Oft kann man tatsächlich in einer solch kurzen Zeit manches alte Problem lösen, denn man tritt als Kursdozent einem Schüler ja völlig neutral gegenüber und erkennt unter Umständen auch Dinge, die der ständige Lehrer durchaus am Anfang auch erkannt hat, sich aber vielleicht inzwischen, nach mehreren nur mäßig erfolgreichen Lösungsversuchen mit einer Kompromisslösung abgefunden hat. Hier tut ein kurzer, aber heftiger frischer Windstoß oft sehr gut. Dies kann meinen eigenen Studenten selbstverständlich auch passieren, wenn sie zu Kollegen auf Kurse fahren. In jedem Fall befürworte ich für meinen Studenten die Teilnahme an Kursen bei Kollegen. Dazu kommt noch der überaus wichtige und fruchtbare Austausch der Kursteilnehmer untereinander!
Wettbewerbe halte ich auch für grundsätzlich gut, stellen sie doch immer ein attraktives Ziel dar, auf das sich vorzubereiten lohnend erscheint. Man lernt auf diese Weise gutes und gewichtiges Repertoire. Außerdem bringen Wettbewerbe jeden Kandidaten schonungslos zu einer total realistischen Selbsteinschätzung . Jedwede so gewonnene Erfahrung sollte dann aber auf die eigene Situation bezogen ehrlich eingeordnet und so verarbeitet werden, dass sich vielleicht auch aus einem nur mäßigen Wettbewerbserfolg doch eine neue oder gewinnbringendere Perspektive für das weitere Arbeiten ergibt. Es ist andererseits immer aber auch sinnvoll sich in diesem Zusammenhang klar zu machen, dass es sich bei Wettbewerbsplatzierungen irgendwo auch nur um die Meinung einer bestimmten Jury handelt, wobei man manche Einzelauffassung aus der Jury durchaus auch nicht immer nachvollziehen kann oder mittragen würde.
C. M.: Wie viel Zeit verwenden Sie auf das tägliche Üben am Instrument?
W.L.: Das kommt darauf an: vor Konzerten etwas mehr, ca.3 Stunden täglich, sonst… ja, wenn ich neue Stücke lerne… eigentlich auch 3 Stunden. Die Arbeitweise in beiden Situationen ist aber natürlich jeweils unterschiedlich.
C. M.: In welchem Verhältnis stehen technisches Üben und die musikalische Arbeit an einem Werk?
W.L.: Meistens trenne ich da heute nicht mehr so stark, wie früher, aber das kommt natürlich auch auf das Stück an. Dies ist ein sehr weites, aber auch sehr spannendes Feld!
C. M.: In welchen Schritten erarbeiten Sie sich ein Stück?
W.L.: Ein für mich gänzlich unbekanntes neues Werk versuche ich zunächst vom Notentext her kennenzulernen , mache mir Form, Tonsprache und eventuell schwierige Rhythmen klar. Vielleicht spiele ich es einfach auch, so gut es geht, durch, um zu erkennen, was handwerklich auf mich zukommt , z.B. bei einem nicht selbst ausgewählten Werk aus dem Bereich der Neuen Musik. Dann entwerfe ich erst einen Fingersatz für die linke Hand, und wenn ich hier schon etwas Durchblick gewonnen habe, den passenden Fingersatz dazu für die rechte Hand. Dann probiere ich den Fingersatz aus, ob er auch in der weiteren Praxis taugt und sich bewährt. Nach ein paar Tagen merke ich u.U. dass mir die eine oder andere Stelle fingersatzmäßig auf eine andere Art doch besser gefällt. Dann wird sie eben geändert. Anschließend muss dann der Lernprozess und Übeprozess im Stück fortschreiten. Dabei arbeite ich vom Kleinen ins Große gehend, lasse also die Übeeinheiten immer größer werden bis schließlich zur Gesamtdarstellung des Stücks. Dann folgt eine Art Festigungsphase, vor Konzerten auch mit “Härtetests”, z.B. morgens sehr früh, oder abends sehr spät, unter starker Konzentration oder auch unter Ablenkung (beispielsweise vor dem Fernseher) ,um den unbewussten Lernprozess und auch die Handmotorik speziell anzusprechen. Irgendwann muss es dann aber so weit sein, dass ich mich vor ein Publikum wagen kann.
C. M.: Vielen Dank für Ihre detaillierten Antworten und alles Gute für die Zukunft!
CD-Vorstellung: Variations Capricieuses