Von Ludger Bollinger
Iserlohn 2002 – auf dem Weg dorthin überlege ich, wie oft ich schon bei diesem Festival dabei war: ist es dieses Jahr das siebte oder achte mal? Ich weiß es nicht mehr. In Erinnerung sind mir nur die vielen hervorragenden Konzerte mit der “Creme de la Creme” der internationalen Gitarrenszene, die herzliche Atmosphäre, die tolle Unterkunft im Haus Ortlohn (samt Verpflegung) und die vielen inspirierenden Unterrichtsstunden geblieben. Die Messlatte liegt also sehr hoch.
Ob dieses Jahr meine Erwartungen wieder erfüllt werden? Um es vorweg zu nehmen: Iserlohn 2002 war erneut ein voller Erfolg! Besonders das überdurchschnittlich hohe Niveau vieler Konzerte in diesem Jahr beeindruckte mich sehr. Doch dazu später mehr.
In der evangelischen Akademie Haus Ortlohn angekommen, treffe ich schon an der Rezeption die ersten bekannten Gesichter wieder (viele Teilnehmer sind wie ich “Iserlohn-Dauergeschädigte”, und man kennt sich somit schon seit Jahren). Allerdings sind auch dieses Jahr wieder viele neue Teilnehmer/innen dabei und ich frage mich, wie und vor allem wo diese vielen Leute alle untergebracht werden sollen. Bei einem Gespräch mit dem “Chef vons Ganze”, Thomas Kirchhoff, erfahre ich schließlich, dass aufgrund der riesigen Nachfrage dieses Jahr sogar die Kegelbahn zum Schlaflager umfunktioniert wurde und weiteren 50 Teilnehmern abgesagt werden musste.
Um die Dimension, die dieses Festival angenommen hat, zu verdeutlichen – es ist mittlerweile europaweit das größte seiner Art – hier ein paar Zahlen, die für sich sprechen:
– 174 Studenten aus 35 Ländern (USA, Kanada, Mexico, Japan, Korea, Malaysia, Iran, Ägypten, Russland und ganz Europa) nahmen teil
– 28 Dozenten (darunter Leo Brouwer, David Russell, Costas Cotsiolis, Eduardo Isaac, Dale Kavanagh, Thomas Müller-Pering, Gerald Garcia, Frank Gerstmeier, Thomas Kirchhoff, Manuel Rubio, Tom Johnson, Nora Buschmann, Laura Young, Jeff MacFadden) erteilten 600!!! Unterrichtsstunden !
Nachdem ich mein Zimmer bezogen habe – die Gästehäuser liegen wunderschön in einem ruhigen Park, der bei gutem Wetter auch gerne zum Üben genutzt wird ist es Zeit für das Mittagessen. Eigentlich komme ich ja jedes Jahr nur des Essens wegen nach Iserlohn, vor allem das frische Obstmüsli jeden Morgen…..!
Na ja, Spaß beiseite, ganz so ist es nun doch nicht, aber die Verpflegung lässt wirklich keinerlei Wünsche offen.
Nach einer kurzen Mittagspause geht es dann gleich am ersten Tag mit dem Unterricht los. Dazu kommen noch die ersten Ensembleproben unter der Leitung von Gerald Garcia und Dieter Kreidler. Gerald hat wie schon in den letzten 10! Jahren wieder extra ein Werk für das Abschlußkonzert komponiert. Dieses mal sind es “4 Gälische Lieder” für Gesang (mit der sehr guten Nathalie de Montmollin) und Gitarrenensemble. Dieter Kreidler übernahm die Erarbeitung des Weiss-Konzertes für Solo-Gitarre (Kathrin Hohmann, die ihren Part ebenfalls sehr sicher meisterte) und Zupforchester.
Das Eröffnungskonzert am ersten Abend bestritt David Russell. Wegen der großen Nachfrage (540 Besucher) wurde dieses Konzert in das Parktheater Iserlohn verlegt. Obwohl David in dem zweistündigen Konzert die ganze Bandbreite seines Könnens zeigte, sprang dort Funke der Begeisterung jedoch meiner Meinung nach nicht so über, wie bei einigen anderen Konzerten in der sehr stimmungsvollen Obersten Stadtkirche, die noch folgen sollten. Russell hatte allerdings auch im Jahr 2000 ein Konzert in Iserlohn gegeben, dass viele wohl nie vergessen werden (er musste bereits vor der Pause eine Zugabe geben!) und daher lag auch hier die Messlatte extrem hoch.
Damit war der erste Tag aber noch lange nicht zu Ende. Wieder in der Akademie angekommen, ging es zum gemütlichen Teil bei Wein, Bier, Pizza etc.. über. Dies ist übrigens ein großer Pluspunkt gegenüber anderen Festivals dieser Größenordnung: da alle Dozenten und Teilnehmer die gleiche Unterkunft haben, kann bis tief in die Nacht (im wahrsten Sinne des Wortes) über “Gitarre, Gott und die Welt” philosophiert werden.
Und so ging es dann die ganze Woche weiter: Gitarre pur rund um die Uhr.
Dem Konzert von David Russell folgten in den nächsten Tagen noch 11 weitere, die ebenfalls alle sehr gut besucht waren. Einige Zuhörer reisten nur für die Konzerte sogar extra aus Belgien und Frankreich und ganz Deutschland (Stuttgart, Hamburg, Berlin) an. Besonders beeindruckt haben mich dabei die Leistungen von Dale Kavanagh (viele sehr schöne Eigenkompositionen und ein traumhaftes “Nocturnal” von Britten), Thomas Müller-Pering, Eduardo Isaac (mit überzeugender Keith Jarrett Adaption) und Costas Cotsiolis, dem der Joke des Jahres zugeteilt wurde: in Iserlohn gibt es ja eine lange Tradition dafür. In diesem Jahr vertauschte der Veranstalter vor der Zugabe Cotsiolis’ Instrument und Gerald Garcia war als Überbringer eingeteilt.
Dieser stolperte dann in einer schauspielerischen Glanzleistung, warf die Gitarre (eine alte ausrangierte) in hohem Bogen auf den harten Kirchenboden, wo sie mit ohrenbetäubenden Lärm nierderging. Für 2-3 Sekunden erstarrte Cotsiolis (die Arme weit überm Kopf zusammengeschlagen) bis er sah – es war nicht sein Instrument. Die Zuhörer in Iserlohn an deftige “Kirchhoff-Jokes” gewöhnt, brauchten auch einige Sekunden – dann war das Hallo groß… Auf der nach oben offenen Richter-Skala sicher eine 8,5 – denn nächstes Jahr ist ja wieder Iserlohn….
Ein weiteres Highlight für mich war dieses Jahr der Vortrag von Leo Brouwer! Es war schon ein Erlebnis der “besonderen Art”, einen der bedeutensten lebenden Komponisten für Gitarre hautnah zu erleben! Gebannt folgten alle Zuhörer seinen Ausführungen über sein musikalisches Schaffen von den Anfängen bis in die Gegenwart. Der Mann kann ohne Übertreibung als ein Genie bezeichnet werden.
Unerwähnt darf auch das Quizkonzert von Frank Gerstmeier nicht bleiben, der in gewohnt gekonnter Manier geschickt Melodien von Barock bis Pop ohne Unterbrechung in ein 40 minütiges Potpourri verwandelte. Den Studenten, die die meisten Themen erkannten, winkten Sachpreise in Form von Saiten, Noten und Wein.
Dann wäre da noch das hervorragende Zusatzkonzert des jungen Belgiers Anton Vanderborght zu nennen, den ich aus den letzten Jahren noch als Teilnehmer kenne.
Und, und, und…
Ach ja, natürlich findet im nächsten Jahr das Festival wieder statt, und zwar vom 3. bis 10. August 2003. Als Dozenten wurden u.a. eingeladen: Eduardo Fernandez, Roland Dyens, Alvaro Pierri, David Tanenbaum, Benjamin Verderey, Lily Afshar, Gerhard Reichenbach, Karin Schaupp (Australien), Eli Kassner und neben der “usual crew” (Gerstmeier, Amadeus, Garcia, Tom Johnson, Steve Thachuck) noch eine dicke Überraschung!
Also bis zum nächsten Jahr in Iserlohn!
P.S.: Anmeldungen können ab Dezember 2002 unter http://www.guitarsymposium.de getätigt werden.