“He is sensational”, kein geringer als John Williams drückt mit diesen Worten seine Bewunderung für den Gitarristen Wulfin Lieske aus. Als Gewinner der Wettbewerbe in Alicante (Spanien 1981), Köln (Tonger-Preis, BRD 1982), Gargnano (Italien 1982), Almunecar Certamen Andrés Segovia, Spanien 1985) gelang Wulfin Lieske zu internationaler Anerkennung. Einladungen auf Festivals (u.a. in Berlin, Mailand, Valencia und Tychy) und zu Rundfunk- und Fernsehproduktionen schlossen sich an. Heute zählt der Gitarrist und Komponist Wulfin Lieske zu den international führenden Musikerpersönlichkeiten seines Genres. Gerade erschien im Label “kreuzberg records” seine neueste CD “Taqsim I-III”, auf der sich Lieske einmal mehr als außergewöhnlicher Gitarrist, aber auch als Komponist vorstellt.
Das Interview führte Christian Moritz.
Christian Moritz: Mit 14 Jahren hast Du Dich mit Deinem ersten Konzert einer größeren Öffentlichkeit präsentiert. Wann hast Du mit dem Spielen angefangen, dass so ein frühes Debüt möglich war?
Wulfin Lieske: Es ging mit zehn Jahren auf einer KLIRA-Gitarre los – ich hatte sie mit Alufolie beklebt, Mirko hinein, am Grundig Tonbandgerät angeschlossen, voll ausgesteuert und auf Aufnahme und Pause gedrückt: fertig war die E-Gitarre nebst Amp.!
C. M.: Bei wem hast Du damals gelernt?
W. L.: Unterricht war zwar wöchentlich aber marginal – war Autodidakt – mein Lieblingsstück meiner Schule war die “Elegie” von Walter Götze.
C. M.: Wie verlief Deine weitere Ausbildung?
W. L.: Ich kam früh zu meinem späteren Hochschullehrer Prof. Karl-Heinz Böttner, der damals auch an der Rheinischen Musikschule der Stadt Köln – zu dieser Zeit noch Konservatorium – lehrte. Es folgte das Studium an der Musikhochschule in Köln bei Böttner und später bei Hubert Käppel sowie Meisterkurse bei Oscar Ghiglia, Jose Tómàs und John Williams.
C. M.: Unter Deinen Lehrern finden sich u.a. auch das Amadeus-Quartett und der berühmte Violinist Rudolf Kolisch, was für einen Gitarristen nicht unbedingt üblich ist. Inwiefern hast Du von Deinen Studien bei diesen Musikern profitiert?
W. L.: Mich hat immer eine Sicht auf die Gitarre interessiert, die von einem universalen Musikverständnis ausgeht – sozusagen vom Grossen ins Kleine. Bei Kolisch ging es um die Interpretation und Analyse der Neuen Wiener Schule, wir spielten Schoenberg und Webern – für mich damals ein Kopfsprung ins kalte Wasser, aber da gab es Ungeheures zu entdecken, das hat meinen Horizont enorm geweitet. Sigmund Nissel vom AMADEUS Quartett fand großen Gefallen an meinen gitarristischen Konsultationen – es kamen ja sonst fast nur Quartette – und hatte sehr gute Ideen zur Gestaltung der Dynamik auf der Gitarre.
C. M.: Neben dem klassischen Repertoire hast Du dich auch immer der neuen und experimentellen Musik gewidmet. Im Quartet “Extempore” und bei Deiner Formation “Bronsky Ritual” spielst Du u.a. auch E-Gitarre. Hat Wulfin Lieske auch eine Vergangenheit als Rockmusiker oder bietet die E-Gitarre lediglich andere Möglichkeiten des musikalischen Ausdrucks?
W. L.: Die Vergangenheit als E-Gitarrist ist schnell berichtet: es begann mit einer noname E-Gitarre mit zwei Pickups und Vibrator…, dann folgten eine Gibson SG Kopie von Hoyer als Leihgabe, dann das Original (gebraucht aber Eigentum – ich habe sie heute noch) und eine Ibanez Halbresonanz Jazzgitarre (George Benson Modell). Gespielt habe ich Rock, Rock-Jazz, Jazz, Free-Jazz, Avantgarde und das Miserere von Arvo Pärt.
C. M.: Schon bei Deinem Debüt-Konzert hast Du neben Kompositionen von Bach auch eigene Werke und Improvisationen gespielt, was sich ja wie ein roter Faden durch Deine Karriere zieht. Findest Du eine künstlerische Tätigkeit als ausschließlich nachschaffender Künstler zu einseitig?
W. L.: Ja. Gerade vor einigen Wochen spielte ich nach längerer Pause in Karlsruhe wieder ein Konzert mit dem afghanischen Perkussionisten Hakim Ludin – es war ein ganz anderes Reagieren im Publikum als im Klassik-Recital – zum Glück waren wir verstärkt! In Paris hatte ich vor vielen Jahren das unvergessliche Erlebnis eines ebenfalls frei improvisierten Konzerts im legendären Olympia mit der fantastischen Sopranistin und Komponistin Geraldine Ros, die übrigens bei György Ligeti in Hamburg studierte und auch mein Werk Taqsim geht auf Improvisationen zurück. Das spontane Erfinden von Musik bringt Vergangenheit und Zukunft im Jetzt in höchster Potenz zueinander – diese extreme Konzentration erzeugt eine einmalige Energie, die ich auch immer wieder in der Interpretation suche – dort ist sie freilich durch die Werkvorgabe kanalisiert und fordert eine totale Unterwerfung aus der aber letztlich auch wieder im subjektiven Ausdruck Freiheit entsteht.
C. M.: Täuscht es oder gibt es insgesamt wieder eine zunehmende Tendenz unter den Gitarristen selbst zu komponieren?
W. L.: Ich habe auch den Eindruck – vielleicht ist dies auch zum Teil der Prozess einer neuen gitarristischen Identitätsbildung. En gros ist ja ein gewisser Rückgang des Interesses an wirklich “neuer” Musik feststellbar, selbst die modernen Klassiker von Britten bis Henze sind sozusagen abgespielt – aber auch sie werden, wie auch Sor und Giuliani, wieder auftauchen. Leider igeln wir uns damit auch wieder ein bisschen ein. Aber wenn dabei Gutes entsteht…
C. M.: In den letzten Jahren haben Deine kompositorischen Aktivitäten zugenommen. Für die Expo 2000 in Hannover hast Du das Oratorio “über den Wassern” geschrieben. Neben Deinem Quartett Bronsky Ritual und dem Hilliard-Ensemble waren in die Uraufführung auch die Performancekünstlerin Saadia und Lichtprojektionen einbezogen. Glaubst Du, dass die traditionellen Formen des Konzerts erschöpft sind und dass es häufiger eine Verschmelzung verschiedener Kunstformen geben sollte? Gibt es diesbezüglich konkrete Ideen, die Du in Zukunft realisieren möchtest?
W. L.: Mich hat immer die Idee des Gesamtkunstwerkes fasziniert – auch in Zukunft wird es wieder Projekte in dieser Richtung, vielleicht auch eine Oper, geben. Zur Zeit stehen aber “normale” Kompositionsaufträge an, die aber ebenfalls sehr reizvoll sind: z.B. ein Duetto für Hammerklavier und Gitarre. Ich glaube nicht, dass die Form des traditionellen Konzertes erschöpft ist – Musik ist nun einmal zum Hören da. Aber zugleich sind wir in einem sehr visuellen Zeitalter und lechzen nach Reizen – ein Blick in VIVA und MTV genügt. Also warum nicht Gutes tun…
C. M.: In Deinem Oeuvre findet sich auch ein Gitarrenkonzert. Ist es schon uraufgeführt worden oder gibt es gar eine Aufnahme?
W. L.: Das LUXOR Guitar Concerto ist gerade abgeschlossen und wird vom Verlag zur Veröffentlichung eingerichtet. Die Uraufführung wird in der Saison 05/06 sein.
C. M.: Gerade ist im Label “kreuzberg records” Deine neue CD “Taqsim”, eine Hommage auf die orientalische Klangwelt der arabischen Oud erschienen. Kannst Du beschreiben, was den Hörer erwartet?
W. L.: Ich möchte die CD ja nicht überflüssig machen und zum Glück geht dies auch gar nicht. Aber immerhin kann sich der Hörer auf etwas Unerhörtes einstellen. Es ist eine sakrales und integrales Werk welches aus drei selbständigen “Taqasim” besteht. Die Aufnahme entstand mit einer Gitarre von Manuel Ramírez aus dem Jahre 1912, gestimmt auf 415 Hz, in einer geradezu byzantinischen Akustik einer historischen Doppelkirche. Durch die Beschränkung auf ein Kugelflächen-Mikrofon der Firma Schoeps entstand ein Live-Klang, der den Hörer in den Raum hineinzoomt.
C. M.: Sind die hier eingespielten Eigenkompositionen durchkomponierte Werke oder gibt es auch improvisierte Teile?
W. L.: TAQSIM ist das einzige meiner Werke welches nahezu ausschließlich aus einer permanenten “Reinkarnation” von aufgezeichneten Improvisationen, wie Sedimente, entstand. In der jetzigen Gestalt ist aber alles zu 95% festgelegt – Freiheit liegt im Tempo und in der Gestaltung einiger Wiederholungen. Trotzdem wirkt es nach wie vor wie eine eben perfekte Improvisation.
C. M.: Arbeitest Du mit Präparierungen des Instruments um dem Klang der Oud nahe zu kommen?
W.L.: In der Tat verwende ich für Taqsim II Elegie/Fragment eine Präparation (in Verbindung mit Skordatur, Bottleneck, Filzschlegeln und Plektrum) – allerdings nicht um die Oud zu imitieren, sondern um eine Art Urzupfinstrument zu schaffen, fast im präkulturellen Raum (wenn es das gäbe). Es entsteht trotz einem klaren Modus (besser das arabische “maqam”) eine vagierende Intonation im mikrotonalen Bereich.
Viel näher kommt die Gitarre der Oud im 2. Satz von Taqsim I “Evocación” – eine Reminiszenz an den großen irakischen Oud-Meister Muneir Bashir. Insgesamt geht es aber um einen avantgardistischen und zugleich auch archaischen Klang, der allerdings vom “romantischen” Wohlklang sehr weit entfernt ist. Der Klang ist hart und sehr direkt, aber es gibt auch viel zartes Gespinst. Bald wird die Notenausgabe erscheinen und der Gitarrist kann sich schon auf Tapping, mikrotonale Naturflageoletts, Kuppentremolando, Slaps, gekreuzte Saiten u.v.m. freuen. Aber eigentlich liegt alles ganz angenehm…
C. M.: Gibt es für Dich bestimmte Quellen, aus denen Du Deine Inspiration für neue Werke beziehst?
W. L.: Jede Inspiration hat ihre Quelle. Für mich ist zunächst die Klanglichkeit des Instruments entscheidend: es soll ja gut klingen. Auch wenn es natürlich Werke mit mehreren Besetzungsvarianten gibt, die meist nachträglich entstehen, so muss der Geist oder ein Teil des Wesens des Instrumentes angesprochen, ja geradezu mitkomponiert werden. Hier habe ich natürlich bei der Gitarre den eigenen Vorteil, dass ich alles selbst ausprobieren kann.
Ein Inspirationsbeispiel: Im letzten Jahr realisierte ich z.B. einen Kompositionsauftrag für Gitarre zum Thema “Wasser”. Es ging in folgender Reihenfolge: Solowerk für Gitarre, ca. 10 min., Wasserthematik, Festlegung der Kompositionstechnik auf die von mir für das Oratorio “Über den Wassern” entwickelte Humuskomposition – basierend auf acht Tönen in einem periodischen vierstimmigen wellenartigen Satz nach sehr strengen seriellen Auswahl- und Gestaltungsprinzipien. Nun folgte die Inspiration scheinbar zufällig durch das Blättern in einem Ausstellungskatalog über Claude Monet’s Ölbilder, die in seinem Garten bei Giverny entstanden: mich faszinierten die späten fast monochromen blauen Seerosenbilder, ich wählte eines aus und übernahm die die Grobstruktur als Formverlauf meines Werkes: Vordergrund mit Gras, Teich, Seerosenverbund als Mittelteil und wieder Teich als Hintergrund. Das ganze aber nicht deskriptiv sondern als Gleichnis von Archetypen verstanden – kurzum die Durchsichtigkeit des Wassers, die Spiegelung, die Verschlingung der Pflanzen: eine meditative Ekstase! Nach 20 Tagen war das Manuskript fertig, die Uraufführung folgte einen Monat später. Titel: Nymphéas d’après Claude Monet.
C. M.: Wie sieht eigentlich ein normaler Tagesablauf des Musikers Wulfin Lieske aus?
W. L.: Um 7 Uhr aufstehen, Familienfrühstück, E-Mails lesen, drei Stunden üben bis zum Mittag, nachmittags noch einmal zwei Stunden üben oder Business machen, manchmal auch unterrichten, noch mal hinaus spazieren gehen, joggen oder Erledigungen machen. Meist noch Telefonate erledigen. Abendessen, Family, Bett – gutes Buch etc.
C. M.: Bist Du zufrieden mit Deiner Situation als freischaffender Künstler oder bekommt man auch hier die allgemein angespannte Wirtschaftslage zu spüren?
W. L.: There is no way not to suffer…wer spürt sie nicht? Alles hat seinen Preis – auch die Freiheit. Wir müssen alle hoffen, dass Kultur ein hohes Gut bleibt und dafür kämpfen. Bei allem Geschäftssinn muss aber die Freude andere zu erfreuen das Entscheidende leisten.
C. M.: Dein neuestes Soloprogramm beinhaltet wieder einen interessanten Kontrast zwischen Tradition und Moderne. Was für ein Repertoire spielst Du zur Zeit konkret in Deinen Solokonzerten?
W. L.: Es gibt zwei Hauptprogramme “Agua e Vinho” mit lateinamerikanischer Musik und aktuell “Aires de la Guitarra” mit spanischer Musik, die ich gerade eingespielt habe (übrigens auch mit der Manuel Ramírez). Die Auswahl spannt einen Bogen von sehr populären Werken (z.B. Bonfa’s Manha da Carneval) zu Raritäten wie der Serenata Morisca von Ruperto Chapí. Dazu integriere ich als Kontrast ein ganz neues Werk, meist ein eigenes, und manchmal als Antipode auch etwas Altes – z.B. Milano oder Bach. Für 2005 bereite ich ein Programm mit einem bedeutenden Originalinstrument des frühen 19. Jd. und seiner Epoche vor. Das ist für mich sehr spannend, da ich die Zeit der nordalpinen Klassik-Romantik bisher etwas stiefmütterlich behandelt habe und ich ich nun voller Entdeckerfreude bin.
C. M.: Was sind Deine nächsten Projekte und wo kann man Dich in naher Zukunft Live erleben?
W. L.: Für Juli stehen einige Konzerte und eine CD-Produktion mit der Gitarren-Legende schlechthin, der La Leona von Antonio Torres, an. Ich habe dieses auch innerhalb Torres’ Schaffen einzigartige Instrument zwar schon einmal gemeinsam mit sechs anderen altspanischen Meistergitarren vorgestellt, aber nun soll sie ihr ureigenstes Podest erhalten. Um die neuartige Universalität des Torres’schen Instrumententyps zu demonstrieren gibt es Musik von Bach, Milano, Sor, Tárrega und mein “Nymphéas”. Danach wird es, wie schon angedeutet, Solo- und Kammermusikprojekte in historischer Aufführungspraxis aus der “goldenen Epoche der Gitarre” geben, mit Künstlern wie den Dirigenten und Pianisten Christoph Hammer, Martin Sandhoff (Traverso) oder dem Schuppanzigh-Quartett. Nicht zuletzt wird einige Zeit in die Aufbereitung meiner Werke und Editionen zur Verlagspublikation gehen, die die Arbeit einiger Jahre der Öffentlichkeit zugänglich macht. Das nächste Konzert ist am 30.4. in Hamburg – dort werde ich das Programm Aires de la Guitarra und Taqsim I spielen.
Folgende Werke Wulfin Lieskes werden in nächster Zeit im Verlag Edition Margaux erscheinen:
- Nympheás d ’après Claude Monet 2000, für Gitarre solo
- Taqsim I-III, zur gleichnamigen CD-Produktion für Gitarre solo
- Astoriana, Hommage à Astor Piazzolla für zwei Gitarren
- 52stein Part I, “Vierstein Runs the Voodoo down ” für vier Gitarren
Weiter Informationen: