Die folgende Frage stammt aus dem Forum von GitarreHamburg.de. Hierzu gab es einige hilfreiche Beiträge. Die ausführliche Antwort von Volker Griese¹ ist so interessant, dass sie an dieser Stelle noch einmal zitieren werden soll.
Frage:
Ich hab’ schon 5 Jahre Gitarrenunterricht und immer noch Spaß am Spielen. Mittlerweile sind die Stücke, die ich übe, aber häufig relativ kompliziert und ich brauche lange um sie sicher spielen zu können. Ich spiel’ jeden Tag alle möglichen Stücke rauf und runter, aber hinterher bin ich oft nicht viel weiter als vorher. Da das wirklich nervt, suche ich nach Übetechniken und Möglichkeiten, um Stücke schneller sicher spielen zu können. Ist es z.B. besser einmal für längere Zeit zu spielen als mehrmals kürzer über den Tag verteilt? Oder sollte man sich pro Tag nur ein Stück vornehmen, sich darauf konzentrieren und nichts anderes zwischendurch spielen? Bringt es tatsächlich was, mit dem letzten Takt zu beginnen und sich langsam bis zum Anfang vorzuarbeiten? Kann ganz langsames Durchspielen aller Noten des Stücks eine Hilfe sein? Muss man das gesamte Griffbrett auswendig kennen, um schnellen Erfolg zu haben? Und Wenn, wie soll man das anstellen?
Antwort von Volker Griese:
“Ich möchte auf Deine Frage eingehen, ob es etwas bringt, mit dem letzten Takt anzufangen und sich dann langsam vorzuarbeiten. Wenn Du dabei konsequent bist, bringt es erstaunlich viel, so meine Erfahrung!
Ich beschreibe diese Methode einmal so, wie ich sie anwende (bei mir und meinen Schülern) – vielleicht kannst Du Dir ja etwas abschauen.
Sobald Du das Stück kennst, d.h. in seinen Sinneinheiten verstehst, kannst Du es ‘rückwärts’ auswendig lernen.
‘Rückwärts’ lernen bedeutet, Du fängst das Stück mit der letzten Sinneinheit an – das kann weniger als ein Takt sein…
Alvaro Pierri meint, man könne eine Stelle erst dann wirklich sicher, wenn man in der Lage sei, diese sehr langsam (Tai Chi auf der Gitarre) viermal ohne jeglichen Fehler hintereinander zu spielen. Wenn das noch nicht klappt, beherrscht man sie nicht, erst recht nicht bei einem Vorspiel!
Machst Du einen ‘Fehler’ z.B. nach dem dritten Mal: STOPP! Nicht über ‘Fehler’ hinwegüben.
Du musst jetzt klären, warum es nicht geklappt hat. Vorher ist eine Wiederholung völlig sinnlos. Hast Du den ‘Fehler’ erkannt, kannst Du ihn reparieren. Die Sache beginnt von Vorn: wieder viermal, sehr langsam … aber nur solange die Konzentration und Lust reicht!
Übrigens hilft es manchen auch, sich erst einmal die Stelle, die man lernen möchte, in ihrem richtigen Ablauf vorzustellen (sog. mentales Training, kennst Du sicherlich). Es kann sehr hilfreich sein, im Geist immer schon die nächste Note (samt Fingersatz) zu sehen und zu hören, sich so auf bekanntem Terrain zu bewegen (und nicht zu raten, was kommt). Jeder ist ein anderer Lerntyp: der eine ‘sieht’ die Noten im Geist, der andere hört voraus, der nächste orientiert sich an Bewegungen (Fingersatz etc.), ein weiterer nimmt von jedem etwas… Vielleicht hast Du für Dich schon mal herausgefunden, was Du für ein Lerntyp bist?
Warum aber ‘rückwärts’ lernen?
Meist beginnen wir ein Stück vom Anfang her (auswendig) zu lernen. Wir sind dann noch frisch und konzentriert. Nach vielleicht acht Takten sinkt unsere Konzentration schon etwas und bei Takt 27 klingelt das Telefon, bei Takt 39 geht nichts mehr in den Kopf … also wieder von vorne beginnen, es MUSS doch irgendwie klappen, wenn ich es nur oft genug wiederhole!!
Dem liegt aber ein Denkfehler zu Grunde: lernt man so (auswendig), geht man IMMER vom Bekannten (die ersten Takte bzw. Sinneinheiten), die man durch häufiges Spielen von Vorn dann auch am besten kann, zum mehr und mehr Unbekannten (alle folgenden Takte bzw. Sinneinheiten, weniger häufig gespielt als der Beginn, noch dazu mit sinkender Konzentration und Spiellaune..). Es häufen sich Unsicherheit und ‘Fehler’.
Wer so lernt, hat die zunehmende Unsicherheit und Fehlerrate bestens mitgelernt, denn dem Gehirn ist es egal, was und wie es lernt: es geht alles “rein”, leider auch der Un-Sinn (das Telefon klingelte bei Takt 27, bei Takt 39 war ich müde und hatte eigentlich keine Lust mehr…)
Die Lösung ist verblüffend einfach. Man beginne von ‘hinten’. Dieser Bereich wird dann der am häufigsten wiederholte, mit größter Konzentration und Motivation erlernte sein.
Ein typischer Lernablauf könnte so aussehen:
letzte Sinneinheit zuerst, viermal sehr langsam und sicher. Geht das, vorletzte Sinneinheit + die schon erlernte letzte Sinneinheit viermal langsam und sicher. So wird immer weiter von hinten nach vorne Sinneinheit an Sinneinheit gefügt.
Daraus folgt: die hinteren Sinneinheiten werden häufiger gespielt als die vorhergehenden, sind schon bekannt, somit sicherer, mit frischerem Kopf erlernt.
Man geht also vom relativ Unbekannten zum Bekannten oder anders: vom relativ Unsicheren zum Sicheren. Eigentlich lernt man bei dieser Vorgehensweise ja gar nichts anderes als beim Lernen von vorne: es sind immer noch ‘Noten’, klar, aber mit dem entscheidenden Unterschied in der Wirkung: man wird nicht unsicherer, je weiter das Stück voranschreitet, sondern immer sicherer.
Natürlich kann dies an die individuelle Art zu lernen angepasst werden: wer Sinneinheiten lieber fünfmal wiederholen möchte, soll dies tun, wichtig allein ist dabei: es hat keinen Sinn, schon die nächste Einheit lernen zu wollen, wenn man die ‘vorherige’ (gemeint ist jetzt: die weiter ‘hinten’ liegende) nicht wirklich kann. Diese ‘Lücke’ wird dann wohl immer ein Stolperstein bleiben – man hat sie ja auch so gelernt, s.o.
Natürlich lässt sich diese Lernmethode auch auf größere Abschnitte übertragen. Man kann jeden Abschnitt ‘rückwärts’ erlernen, kann jeden Tag in andere Bereiche gehen, um so eine Art Gleichgewicht in der Häufigkeit und Intensität der zu erlernenden Sinneinheiten herzustellen.
Immer aber wird man dann den Weg vom rel. Neuen zum schon Bekannten gehen.
Es ist schon eine überraschende Erfahrung (so ging es jedenfalls mir und vielen meiner Schüler), dass man sich gegen das ‘Auswendigspielen-Können’ quasi gar nicht wehren kann, wenn diese Vorgehensweise konsequent angewendet wurde. Probehalber kann man das ja auch erst mal an einem sehr kurzen Stück testen, damit der Lernerfolg rasch erfolgt!
Vielleicht noch ein Hinweis: es lohnt sich eigentlich erst, ein Stück als Ganzes auswendig zu lernen, wenn technischen Hürden beseitigt sind. Wichtig scheint mir auch zu sein, dass Übergänge zwischen Sinneinheiten erkannt und eingeübt werden: ist also eine Sinneinheit beendet, ‘wissen’ die Finger, rechts wie links, was nun als nächstes kommt. Sie deuten dorthin, ohne die Saite wirklich anzuschlagen bzw. niederzudrücken, aber es geht quasi automatisch weiter. Dieser Effekt stellt sich fast von selbst ein, wenn man ‘rückwärts’ gelernt hat, denn das Folgende ist ja schon mal gespielt worden…
Sehr hilfreich ist es auch, wenn eine (vorläufige) Vorstellung zur Interpretation der betreffenden Sinneinheit vorhanden ist (Dynamik, Farbe, Körper-Bewegung, Geste …), denn sterile Notenabfolgen sind uninteressant und ‘gehen nicht gut rein’, aber das ist ein anderes Thema…
Zur Griffbrettkenntnis: um schnellen Erfolg zu haben, ist es natürlich hilfreich, sich auf dem ganzen Griffbrett auszukennen. Ich denke aber, dies kann man nicht abgehoben von den Stücken und Übungen erlernen – jedenfalls konnte ich das nicht, es war einfach zu langweilig, zu abstrakt.
Zu Übezeit: sie ist m.E. etwas individuelles. Allgemein kann man aber wohl sagen, dass kürzeres, intensiveres (also geistig frisches) Üben besser ist als langes und am Ende unkonzentriertes Lernen.
Am wichtigsten scheint mir dabei jedoch die Motivation oder Lust am Spielen zu sein: solange Du richtig Freude hast beim Spielen, ist alles bestens – ansonsten, weg mit der Gitarre, Pause.
Es bringt manchmal mehr, nicht zu üben, als falsch und unmotiviert vor sich hin zu dudeln.
Dieses Nicht-Üben kann man auch richtiggehend als Methode einsetzen bei Stücken oder Stellen, die noch nie geklappt haben: es muss dann erst einmal eine gehörige Zeit vergehen, bis man soviel vergessen hat, respektive die Fehler, dass jetzt wieder die Chance besteht, ganz neu an das Stück heranzugehen – möglicherweise ‘rückwärts’.
Soweit meine Gedanken, vielleicht nützt Dir das ein oder andere.
Viel Spass weiterhin, Volker”
¹Volker Griese – ist studierter Gitarrist und Pädagoge. Darüber hinaus beschäftigt er sich intensiv mit der Gitarrenhaltung und hat dabei die Gitarrenstütze Ponticello entwickelt.