Wer kann schon von sich behaupten, noch von so legendären Meistern wie José Tomás, Regino Sainz de la Maza oder Alirio Diaz unterrichtet worden zu sein und sogar zu den Gitarrist*innen gehört zu haben, die wie Julian Bream oder John Williams bei den legendären Meisterkursen von Andrés Segovia in Santiago de Compostela teilnahmen?
Wolfgang Lendle ist so ein absoluter Ausnahmegitarrist, der nicht nur wegen seiner selten erreichten Virtuosität mit Recht weltweit zu den Gitarristen der ersten Kategorie gezählt wird. Schon früh erhielt er verschiedene Auszeichnungen und war Gewinner der 15. Bundesauswahl für “Konzerte Junger Künstler” sowie der internationalen Wettbewerbe Maria Canals, Barcelona 1969, und Francisco Tárrega, Benicasim 1974. Als Künstler und Dozent trat er auf vielen wichtigen Gitarrenfestivals in Esztergom, Volos, Krakau, Schwetzingen, Bordeaux, Mikulov; Bratislava, Cuernavaca (Mexiko), Istanbul, Tel Aviv und Havanna in Erscheinung. Seit 1985 leitet er eine Ausbildungklasse in Kassel aus der schon zahlreiche Talente hervorgingen. Vielbeachtete CD-Einspielungen, die bei renommierten Labels wie Acoustic Music, Ars Musici, Opus und Teldec erschienen, markieren seinen musikalischen Lebensweg.
In seiner eigenen Ausbildung hat Lendle stets die Zusammenarbeit mit anderen Instrumentalist*innen gesucht und ging so der Gefahr aus dem Wege, wie einige Gitarrist*innen seiner Generation, in bloße Heldenverehrung oder gar Epigonentum zu verfallen. Durch das Aufnehmen der verschiedensten Einflüsse, u.a. einem intensiven Repertoirestudium mit dem angesehenen Pianisten Martin Galling, entwickelte er vielmehr eine eigene sehr starke Musikerpersönlichkeit.
Mit der aktuellen CD “Carmenfantasy” präsentiert er sich einmal mehr als herausragender Bearbeiter und Interpret, dem aufgrund seiner immensen spieltechnischen Fähigkeiten keine musikalischen Grenzen gesetzt sind. Instrumental-Adaptionen der von George Bizet geschaffenen Oper Carmen existieren für diverse Soloinstrumente und Besetzungen. Erstaunlich, dass Wolfgang Lendle mit dieser Einspielung die wohl erste Konzertfantasie für Gitarre vorlegt, bietet sich das Sujet und die musikalische Substanz doch geradezu für derartige Bearbeitungen an. Lendle hat sich vom Opernstoff zu einem achtsätzigen Werk inspirieren lassen, das mit flirrenden Tremoli, kraftvollen Rasgueados, schmachtenden Cantilenen und variationsreicher Artikulation das spanisches Kolorit des Werks eindrucksvoll aufleben lässt. Mit der Satzfolge Entr’acte, Scène, Recitativ, Chanson, Seguidilla, Chanson e Recitativ, Aria des cartes und Habanera weicht Wolfgang Lendle selbstverständlich von der eigentlichen Dramaturgie der Oper ab, schafft es aber durch seine herausragende Interpretationsweise eine schier grenzenlose Stimmungsvielfalt zu erzeugen, lässt seine Gitarre singen, schluchzen, drohen, werben oder tänzeln und so Charaktere, Szenen und Stimmungen des ursprünglichen Bühnenstoffes vor dem inneren Auge des Zuhörers aufleben. Für diese im doppelten Sinne musikalische Meisterleistung ist wohl kaum jemand prädestinierter als Wolfgang Lendle, den es schon im Alter von 18 Jahren nach Spanien zog, um dort bei Antonio Company in Malaga zu lernen. Dabei hat er offenkundig auch eine gehörige Portion spanisches Temperament in sich aufgesogen. Und auch Segovia ist immer noch in Lendles Spiel präsent. So manche Stelle erinnert an die brillante Tongebung und typische Agogik des 1987 verstorbenen Maestros.
Während die Carmenfantasy lediglich inhaltlich in Spanien anzusiedeln ist, stammen die folgenden Titel allesamt aus der Feder spanischer Komponisten. Den größten Raum nehmen dabei Kompositionen von Joaquín Rodrigo ein. Mit “Invocación y danza”, dem zweisätzigen Werk “Por los campos de España”, dem Stück “Tiento” und der seltener gehörten dreisätzigen Komposition “Tríptico” zeigt Lendle mit natürlichem und farbenreichem Spiel auf, dass Rodrigo neben seinen Gitarrenkonzerten – allen voran das überaus beliebte “Concierto de Aranjuez” – ebenso gehaltvolle Werke für die Sologitarre geschaffen hat.
Die folgenden sieben Miniaturen wirken ein wenig wie ein Tribut an den immer noch verehrten Lehrmeister. Dabei lässt Lendle Werke von Padre de Donostosia, Segovia selbst, Emilio Pujol, Carlos Pedrell und Bataller erklingen, bis er sich mit einem “Vals Brillante” von Quintín Esquembre und seiner ihm eigenen Mischung aus absoluter Leichtigkeit und plötzlich hervorbrechender lustvoller Virtuosität von den Zuhörenden verabschiedet.
Meisterhaft!
CD-Besprechung: Variations Capricieuses